„The Nature of Us“, Angela Schubot / Jared Gradinger ©Claudia Hill

Berlin ist keine deutsche Stadt / Berlin isn’t a German city

Keine Aufführungen, kein Training, keine Berührungen, noch keine Perspektive: Die Covid-19-Maßnahmen haben die Tanzszene besonders hart getroffen. Sie reagiert mit dem Wunsch nach Solidarität.

— Im Anschluss an diesen Text finden Sie ein zusätzliches Making-of mit einer Zitatsammlung der interviewten Expert_innen.To read the making-of compilation of expert quotes in German and English, please scroll down.

„Ich wüsste jetzt nicht, wen es besonders kalt erwischt hat, außer alle“, so bringt Simone Willeit, Direktorin der Uferstudios, der größten Berliner Tanzproduktionsstätte, die Lage der Szene auf den Punkt. Es ist kein Geheimnis, dass der zeitgenössische Tanz fast ausschließlich in freien Strukturen ohne feste Anbindung an subventionierte Häuser organisiert ist. Eine Choreographie wird von bis zu 10 internationalen Spielstätten koproduziert. Was das heißt, ist für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Kurz gesagt: Wenn der Verwaltungsaufwand in der Szene schon immer ein Wahnsinn war, dann ist er in Folge der Veranstaltungsabsagen durch die Covid-19-Maßnahmen zu einer unentwirrbaren Matrix geworden. 

Trotzdem fühlen sich in Berlin lebende Tänzer_innen privilegiert. Mit den 5000 Euro für Solo-Selbstständige aus dem Soforthilfe-Programm II hat der Senat immerhin etwa zwei Dritteln der Szene über den ersten Schock hinweg geholfen. „Alles abgesagt, aber boo hoo, nicht alles verloren“, so fasst es der Choreograf Jeremy Wade a.k.a. the battlefield nurse zusammen: „Dank sei dem Tanzbüro, dem Landesverband (LAFT), dem Verein Zeitgenössischer Tanz Berlin, und den unumstößlichen Kulturbewegern und –Aufmischern, die sich für uns stark gemacht haben. Dank sei den Institutionen, die uns bezahlt haben, ob die Show stattfand oder nicht. Dank sei denen, die dort arbeiten, und zwar zweimal so hart wie sonst!“  

Solidarität, dafür ist die Tanzszene bekannt. Wer sich an den letzten Wochenenden auf den Black-Live-Matter-Demonstration umgesehen hat, konnte sich auch dort davon überzeugen, dass die Akteure nicht nur vor die eigene Haustüre schauen. Das Denken an ein Miteinander ist keine bloße Attitüde. Weder nach außen noch nach innen. So haben die Uferstudios mit Einsetzen der Pandemie-Maßnahmen alle Stornierungsregelungen zum Buchen von Studios und Bühnen – die Grundlage des eigenen Geschäftsmodells –  außer Kraft gesetzt. Simone Willeit trägt das Risiko in der Hoffnung darauf, dass Institutionen eher überleben als Einzelkünstler_innen. Diese Haltung der Uferstudios, die genauso für Institutionen wie unter anderen die Sophiensaele, das Radialsystem oder das HAU Hebbel am Ufer gilt, weiß auch die Choreografin Modjgan Hashemian sehr zu schätzen. Vor allem, was die – anderenorts nicht übliche – gute Kommunikation mit den Künstler_innen angeht. Überhaupt spürt sie Solidarität: „Calm your egos – das tut echt gut!“. Was nichts daran ändert, dass der Probenraum aufgrund verschobener Projekte und des Schichtsystems selbst für Kleinstbesetzungen im Herbst noch knapper ist als sonst. 

„Das Problem liegt im Detail“, bemerkt der TOTAL BRUTAL-Gründer Nir de Volff. Die 5000 Euro hätten ihn gerettet, nur wie es mit seiner verschobenen Premiere in Zusammenarbeit mit Geflüchteten weitergehe, sei unklar. Sein engagierter Spielort, das DOCK 11, kann ihm im Verschiebepuzzle erst 2021 wieder einen Termin anbieten, die Projektgelder der Senatsförderung müssen allerdings bis Ende 2020 aufgebraucht sein. „Das ist wie erstmal lächeln, aber unter dem Tisch dann doch ein paar Hindernisse bereithalten“, meint de Volff. „Trotzdem kann ich nicht sagen: Hallo Senat, Ihr seid sooo böse. Das, was passiert, ist keine Bigotterie. Es ist die Situation. Berlin ist nicht Zürich und wir sind hier Tausende guter Künstler_innen.“ 

Laut Nir de Volff könnten es bald noch mehr werden: „Viele, vielleicht Tausende, wollen nach Berlin, nachdem sie von den Hilfsmaßnahmen erfahren haben. Aber was machen wir mit all den Leuten? Wir können nicht sagen: Das ist eine deutsche Stadt, Tanz ist eine deutsche Kunst. Berlin ist ein Label für Tanz geworden. In der internationalen Wahrnehmung komme ich nicht mehr aus Tel Aviv. Ich komme aus Berlin. Aber was sich hier abspielt, ist nicht nur ein deutsches Problem. Wie können wir darauf aufmerksam machen, dass die Gelder aus den Eurobonds auch in anderen Ländern in die Kulturszene fließen müssen?“ Gerade für international erfolgreiche Choreograf_innen sei das Wegbrechen der Gastspiele ausschlaggebend. Eine Covid-19-Ausfallhonorarregelung habe es fast nur in Deutschland gegeben.

So wichtig die internationalen Gastspiele für Choreograf_innen sind, so unentbehrlich können die Berliner Produktionsmittel für internationale Tänzer_innen sein. Bis zu 90 Prozent kommen für Produktionen des Choreografen Christoph Winkler aus dem Ausland. Die bezahlten Probenzeiten trügen gerade für nicht-europäische Künstler_innen dazu bei, die Aktivitäten der lokalen Communities mitzufinanzieren. Die Ästhetiken, die sich dadurch entwickeln, bringen wiederum neue Ideen und Sichtweisen nach Berlin. Wobei Nothilfe anderswo weit existentieller sei. So habe der Tänzer Robert Sempijja erst einmal Nahrungspakete für Bedürftige in Kampala gesammelt. „Man muss wegkommen vom Fokus auf Europa beziehungsweise Deutschland“, meint auch Winkler.

Was nicht heißt, dass es im Auge des Orkans sicher ist. Das Geld aus dem Nothilfeprogramm ist erschöpft, die Zeit der Ausfallhonorare vorbei. Die Möglichkeit zum Nebenerwerb für alle, die in der Fördergelderlotterie durchfallen, extrem minimiert. Ein bereits existentielles Problem der Tänzer_innen ist das Wegfallen von Training, Unterricht und Workshops – eines der Themen, für das sich der Dachverband Tanz derzeit einsetzt. Fast alle Tanzschaffende sind trainierende Virtuosen und gleichzeitig Lehrende und Forschende, die Unterricht geben, nehmen und ein ausgeprägtes psycho-somatisches Fürsorge-System unterhalten. Dieser ganze Bereich einschließlich seiner Ökonomie ist kollabiert. „Das Schlimmste ist, dass ich keine Körperarbeit machen kann. Ich vermisse die Arbeit im Sistering, einem Ort für Frauen, und würde selbst alles für eine Körper-Session von Lea Kieffer geben“, so die Choreografin Angela Schubot.

„Die Künstler_innen sind in diesem Sinn wirklich ‚locked’“, sagt Ricardo Carmona, Tanzkurator im HAU Hebbel am Ufer. „Sie sind von ihrer Praxis abgeschnitten.“ Der künstlerischen Leiter des Radialsystem, Matthias Mohr, ergänzt: „Der zeitgenössische Tanz hat sehr viel Wissen dahingehend entwickelt, wie ein anderes Miteinander imaginiert, erspürt und realisiert werden kann. Er ist ein wichtiges Forum, das Marginalisierungen innerhalb unserer Gesellschaft verhandelt. Dass diese Expertise nun, da sie besonders gebraucht wird, nicht angewendet werden kann, ist doppelt tragisch. Wir müssen Künstler_innen dafür Räume öffnen, ohne sie dabei in irgendwelche Formate zu zwängen.“

Was geht und was nicht? Mit dieser Frage steht die Szene alleine da. Gesundheitsämter haben sich bislang als wenig ansprechbar erwiesen. Strategien werden aufgrund der Empfehlungen von (neu engagierten) Betriebsärzt_innen, Aerosole-Expert_innen und des RKI ausgearbeitet. Und wieder umgeschmissen. So wollten, laut Beteiligter, die Berliner Festspiele für das Down to Earth-Festival im August (das tatsächlich stattfinden soll) Körperkontakte wieder zulassen. Dann aber wurden die Zweifel, ob dies vom Publikum als Provokation empfunden werden könne, zu groß. Derzeit laute die Anweisung also wieder: keine Berührung – selbst wenn Künstler_innen in familienähnlichen „kinships“ mit hohen Ansprüchen aneinander proben. Das Verantwortungsgefühl, richtig zu handeln, ist im Tanzbereich hoch, die eigene Gesundheit und die anderer ein hohes Gut. Von daher herrscht im Allgemeinen eher eine Atmosphäre des Insichgehens, teilweise mit Gefahr ins Depressive abzurutschen, als eine lauter Forderungen. 

Dass ohne Forderungen jedoch schnell die Gefahr besteht, übersehen zu werden, das weiß die viel bewegende Berliner Kulturmanagerin Madeline Ritter, der die Szene einiges zu verdanken hat. Im Sinn von Milo Rau („Wir brauchen eine Ökonomie des Lebens und keine Ökonomie des Mehrwerts!“) fordert sie „Unterstützung auch wenn nichts gemacht, nichts präsentiert werden kann“. Als Tanzproduzenten-Team Diehl & Ritter setzt sie sich zusammen mit Joint Adventures aus München und dem Dachverband Tanz derzeit auf politischer Ebene für ein pandemiebedingtes Förderprogramm speziell für den Tanz ein. 

Was Madeline Ritter dabei als Kulturmanagerin genauso bewegt, wie die Macher_innen, ist „die Frage, wie wir Räume der Begegnung und gemeinschaftlicher Erfahrung eröffnen und Menschen berühren können“. Welche Aufgabe dem Theater dabei zukommt, ist eine Diskussion, die schon vor der Pandemie-Krise da war. Sie könnte jetzt, wo vieles sich draußen abspielt und Räume neu gedacht werden müssen, lauter werden. Wird das Theater in Zukunft eher eine Organisation als zwangsläufig ein Ort mit einer Bühne sein? Für die Choreografin Angela Schubot ist klar: „Was immer für mich kommt, hat mit Licht zu tun und nicht mit dem Dunklen des Theaters.“ 

Was, da sind sich alle darauf Angesprochenen einig, nicht die Lösung sein kann: Streamen. „Es braucht so viel andere Fähigkeiten, um online in einen ‚Float’ zu kommen und nicht im digitalen Schleim unterzugehen“, so der Choreograph Sergiu Matis. „Ich versuche mit verkörperter Technologie zu leben und die wechselseitigen Einflüsse von digitaler und analoger Sphäre wahrzunehmen. Live Performances haben weichere Grenzen, sie können die Betrachter mit hineinziehen und mitverwandeln.“ Und die battlefield nurse Jeremy Wade fügt zur Deutlichkeit hinzu: „Hört auf, Eure Schlafzimmertänze zu streamen! Die Welt brennt!“


Dieser Text erschien (ohne die fett gedruckten Absätze) in der aktuellen Ausgabe der taz am Wochenende vom 6./7. Juni 2020. Auf tanzschreiber veröffentlichen wir zusätzlich ein Making-of. Lesen Sie hier im Anschluss eine Zitatsammlung der interviewten Expert_innen (auf Deutsch und Englisch, ohne Übersetzung).

The article has been published (without the paragraphs in bold) in this weekend’s edition of taz am Wochenende, 6./7. June 2020. On tanzschreiber you can read below a making-of-supplement compiling original comments from the interviewed experts (in English and German, without translation).


On the situation during the crisis / the (political) support system:

(EN) “Everything is canceled, boo hoo, but all is not lost. Shout out to Tanzbüro, LAFT, ZTB and solid as a fucking rock cultural movers, shakers and workers who fought for us freelancers by advocating for Soforthilfe II. Shout out to institutions that paid artists whether the show happened or not. Shout out to cultural workers in institutions that are working twice as hard as they normally do in order to sustain the scene.” Jeremy Wade, choreographer

(EN) “Our time has been devoted to cancellations, finding solutions, holding the contact with the artists and the audience and making plans how to reinvent our spaces. The back-office activities are overwhelming at the moment. We can’t plan and adapt things if they change every second week. Our main concern has been on keeping the Berlin artists premieres of the next season, to open the spaces for rehearsals and to develop the guidelines for that.” Ricardo Carmona, dance curator HAU Hebbel am Ufer

(EN) „As everybody else in the cultural sector, I was also affected by the pandemic with cancelled or postponed projects. We were about to have a premiere in Malta, with the national dance company. The rehearsals were interrupted two weeks before the premiere, and I came back to Germany with a repatriation flight organised by the German embassy. For a few days I was stuck in my room in Valletta not knowing if they’ll put me on a flight soon, or having to stay on the island through the pandemic. Until now I got payed only for the work done until the interruption. Luckily there was the Soforthilfe coming our way. I feel very privileged and thankful to be living in Berlin, a place that can afford to support cultural workers during the crisis. But this also exposed even more the blatant vulnerability of the freelance artists.

Until this moment I’m living off the Soforthilfe money. All the projects in spring were postponed, with payments coming in later this year, hopefully. The festivals during summer were cancelled. We were excited to present Extinction Room (Hopeless.) at Impulstanz in Vienna. It’ll have to wait, but you’ll hear us preaching about extinction very soon (Tanznacht Berlin in September will hopefully happen) —  as, unfortunately, the ecological crisis won’t just disappear during a pandemic.“ Sergiu Matis, choreographer

Foto: „Extinction Room (Hopeless.)“, Sergiu Matis ©Jubal Battisti

(DE) „Covid-19 hat den Unterschied zwischen geförderten und nicht-geförderten Künstler_innen noch größer gemacht. Wer keine Förderung bekommen hat, muss seinen Lebensunterhalt oft durch Unterrichten oder die Arbeit im Kneipenbetrieb verdienen. Diese Einkünfte sind komplett weggefallen.“ Simone Willeit, Geschäftführerin Uferstudios

 (DE) „Was uns diese Zeit wieder gut vor Augen führt, sind die Schwachstellen unseres Fördersystems, das deutschlandweit  – in seinen Vor- und Nachteilen –  einzigartig ist. Das Gewicht liegt hier auf einer projektorientierten Förderung. Es gibt kaum vollgeförderte Institutionen, die mit Gatekeeperfunktionen ausgestattet sind – ein auf den ersten Blick eher dezentrales Fördersystem. Die Politik macht zurzeit einen guten Job, und das, was wir haben, sollten wir nicht einfach über Bord werfen. Dennoch wäre es gut, auch auf das wenige Funktionale schauen. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Fördermittel fast ausschließlich über die Verwaltung abgewickelt werden. Diese Prozedere kommt jetzt an seine Grenzen, und es wäre der Zeitpunkt, die Häuser und einzelne Szenen mit mehr Entscheidungsbefugnis über die Verwendung der Mittel auszustatten. Wir müssen auch einspringen können, wenn Künstler_innen nicht weiter produzieren können, weil sie plötzlich auf Grund von wechselnden Jurys in mehreren Förderrunden nicht bedacht werden. Darüber hinaus brauchen wir eine projektunabhängige Existenzsicherung für die Künstler_innen. Und nicht zuletzt müssen die Institutionen in ihrer eigenen Unabhängigkeit gestärkt werden, damit sie auch in politischen Krisenzeiten als demokratische Korrektive agieren können.“ Matthias Mohr, Künstlerischer Leiter Radialsystem

(DE) „Ein Studio zu finden, ist sehr schwierig in Berlin. Und wenn man dann doch eines bei Kolleg_innen findet, die davon leben, dass sie es vermieten, es dann aber absagen muss und sie einem keine Alternative anbieten können, macht das keine schöne Beziehung zwischen uns Künstler_innen.“ Nir de Volff, Choreograf

(DE) „Die Uferstudios haben zwar hohe Umsätze, fallen aber, weil wir weniger als zehn feste Beschäftigte haben, unter die Kleinunternehmerregelung und nicht die für Mittelständige. Das heißt, dass wir nur Anrecht auf 15 000 Euro Unterstützung hatten, während die Studiobuchungen über sechs Wochen hinweg zu 100 Prozent storniert wurden. Zurzeit sind die Stornierungen auf 90 Prozent zurück gegangen. Die Einnahmen, die jetzt ausfielen, sind verloren. Studios können in Zukunft nicht doppelt gebucht werden. Glück im Unglück ist, dass die Uferstudios in diesem Jahr zum ersten Mal eine infrastrukturelle Förderung erhielten. Sollte die, wie vorgesehen, ausbezahlt werden, und nicht noch eine zweite Welle kommen, schaffen wir es.“ Simone Willeit, Geschäftsführerin Uferstudios

(DE) „Vorausgesetzt, es geht im September wieder irgendwie weiter, dann hätten wir ein paar Verschiebungen von Stücken und Probenperioden gehabt. Das würden wir überstehen, auch konnten wir bis jetzt alle Tänzer_innen zahlen. Geht es nicht weiter, dann bedarf es einiger Plan-Bs und -Cs. Der Grund für den relativ soften Impact ist, dass wir sehr viel Geld in eine Infrastruktur, also ein eigenes Studio gesteckt haben. Diese Unabhängigkeit bedeutet einen gewissen Spielraum, aber die Unabhängigkeit ist ja bei weitem nicht so stabil wie die der Institutionen/Stadttheater. Kurz gesagt: Die Unterfinanzierung von Infrastrukturen, die ganze Palette kapitalistischer Effekte wie Mietenwahnsinn etc. macht uns ohnehin zu schaffen und wird durch Pandemie nur deutlicher. Was gut ist: Dass es momentan Ansprechpartner in der Politik gibt. Die hätten wir auch gerne gehabt, als wir vor Jahren aus unserem Probenraum geflogen sind. Es wäre zu hoffen, dass es eine art task force gibt, auch nach der Pandemie.“ Christoph Winkler, Choreograf

Foto: „A Hey A Ma Ma Ma!“, Konzept: Christoph Winkler, Von und mit: Robert Ssempijja , Michael Kaddu ©COMPANY CHRISTOPH WINKLER

(DE) „Es braucht dringend Ausfallhonorare für Solo-Selbstständige. Derzeit gibt es eine starke Hierarchie über die Verwendung der Mittel, in der die Tänzer_innen das schwächste Glied sind. So ist es fast unvermeidlich, dass ein Konflikt zwischen Tänzer_innen und Choreograph_innen entsteht. Wenn die Choreographin ihrer Tänzerin ein Ausfallhonorar für abgesagte Proben und Aufführungen bezahlt, ist ihr Budget verbraucht, ihr Stück entfällt wohlmöglich und sie ist im Nachteil. Wenn die Tänzerin sich sechs Wochen Probezeit reserviert hat, die unbezahlt ausfällt, ist sie im Nachteil. Größer gedacht heißt das: Wie kann man unterstützen, auch wenn nichts produziert werden, wenn man nichts machen kann? Und woher kommen die Gelder für die zusätzlichen Probezeiten, wenn verschobene Stücke wieder neu aufgenommen werden? Der Verwaltungs- und Verschiebemehraufwand muss im Infrastukturfonds eine Position bekommen, er muss deklarierbar sein.“ Madeline Ritter, Kulturunternehmerin

(DE) „Der erste Schock wurde abgefangen. Aber wie sieht die Zukunft aus? Wir haben eine sehr begrenzte Anzahl an Bühnen für die freie Szene in Berlin und eine große Anzahl an Künstler_innen. Durch den Verschiebestau entstehen jetzt noch mehr Engpässe. Außerdem hängt gerade eine ganze Nachwuchsgeneration in der Luft. Auch Studienabschlussarbeiten konnten nicht gezeigt werden. Damit gibt es für die diesjährigen Studienabgänger_innen weniger Sichtbarkeit. Wird das dazu führen, dass junge Künstler*innen sich andere Jobs suchen müssen, nur weil sie zur falschen Zeit in die Professionalität starten?“ Matthias Mohr, Künstlerischer Leiter Radialsystem

(DE) „Wir befinden uns in der Situation nach einem Tsunami und die Frage ist: Wie lange bleibt das Wasser? Wenn es noch länger bleibt, kommt jetzt erst die richtige Krise. In diesem Sinn fühlen sich die 5000 Euro Soforthilfe wie eine traurige Rente an. Wir können jetzt ein bisschen träumen und kochen. Und später dann vielleicht ein Restaurant aufmachen… Aber es geht nicht nur um das Geld sondern auch um den Austausch untereinander, das gemeinsame Schwitzen, das, was wir zusammen in Bewegung bringen.“ Nir de Volff, Choreograf

On the state of the arts, touch and the „new normal“:

(EN) „In the work I do there’s often a dystopian or sci-fi scenario that helps me think of extreme bodies and performativities. The „new normal” is already dystopian enough. Those scenarios seem to become utterly real. For me it’s now a time of readjusting and questioning what kind of cultural and performative responses to climate crisis should / could , if at all, materialise. I certainly hope that not touching other bodies is just a temporary measure. We’re all thirsty for skin on skin, with good amount of sweat and pleasant grooves.“ Sergiu Matis, choreographer

(EN) „How to be a dancer, and i am a dancer!!!!!!, and still not wanting to be watched? Zeit ins Unbeobachtete zu gehen.“ Angela Schubot, Choreografin

(EN) “So many artists work on the level of affect and touch. They are literally locked at the moment. I hear people often say: „I’m disconnected from my practice“. Not only on a practical level but also on a social level: many people feel this disconnection from one’s own body and the others. 

One of the good aspects of the dance field is its fast capacity to react and reflect upon these changes. There is no filter in between what is happening outside and inside the studio. 

I hope, that especially dance and performance can become important in developing new perspectives regarding the overwhelming ecological and social questions. Logics like „The more you tour, the more successful you are“ need to be questioned! There was this sentence going around in the last weeks: „We can’t go back to normal because normal was the problem“, and there is a point to that. We need to have these discussions and put these topics back on the table.” Ricardo Carmona, dance curator HAU Hebbel am Ufer

(DE) „Ich habe das Gefühl, die Solidarität unter den Kolleg_innen ist stärker. Calm your egos tut echt gut! Diese wahnsinnige Schlacht um Produktionen und der Drang nach Außenpräsenz ist meiner Meinung nach völlig überbewertet!“ Modjgan Hashemian, Choreografin 

(EN) “As a performer, performance maker, teacher or curator it’s easy to loose the plot with all the cancelations and no real sense of perspective in sight of when theaters will actually be able to host events with more than 20 people distanced at 3 meters apart. Loosing the plot is a good thing. What are we going to do in this momentary lapse of cultural production? What are we going to do when the need to invest in our own symbolic capital does not make sense any more? Do we continue as usual when things get back to “normal” in the spring of 2021, no 2022 or….no vaccine in sight kids. We are in this “decaffeinated sublime” for the long haul.” Jeremy Wade, choreographer

On going online:

(DE) „Die Vibration der Sprache läuft ins Leere anstatt auf einen anderen Körper und Reziprozität zu treffen. Da gibt es dann „nur“ inhaltliche Reziprozität – wodurch man dann als „Lehrer“ schnell zum Weisen vom Berg wird und als Teilnehmer zugeballert. Ich habe ein Fußwinken eingeführt, damit wir uns erinnern, dass wir einen Unterkörper haben.“ Angela Schubot, Choreografin

Foto: „Tell Me Why“, Angela Schubot ©Rachel de Joode.

(EN) „We decided not to stream full shows because we value very much the live performance. Instead we developed new online formats together with the artists.

For professional reasons, as a curator I watch a lot of recorded shows, but I know there is no comparison with the live experience.“ Ricardo Carmona, dance curator HAU Hebbel am Ufer

(DE) „Der Alltag der meisten Künstler_innen war in den letzten Wochen gefüllt mit kleinteiliger Absagenverwaltung. Daher haben viele noch gar keine Zeit gehabt, die Situation zu reflektieren. Sich diese Zeit zu nehmen statt mit der gleichen Hyperproduktion online weiter zu machen, finden, nachdem, was ich mitkriege, viele nötig.“ Simone Willeit, Geschäftsführerin Uferstudios

(EN) „I can’t go online. My work isn’t instagramable. It requires so many other skills in order to float online and to not drown in the digital slime. It’s a scary spot for me, as I’m trying to live with technology that is embodied, translated into the corporeal, and attempting to observe how the analog life is influenced by the digital sphere. Time is measured differently online. And it all becomes about the images. Live performances have looser borders and can absorb, drag you in as a spectator. To produce online content with similar power it needs a lot of work and a team of people that can actually do that.“ Sergiu Matis, choreographer

(DE) „Wenn der Tanz nur auf das unmittelbar Sichtbare reduziert wird, kann das bedeuten, ihn zu denunzieren. Wir dürfen dabei die Digitalisierung von Inhalten nicht mit Digitalität verwechseln. Es braucht neue künstlerische Ansätze, die digitale und analoge Realitäten so verschränken, dass die vielschichtigen Qualitäten des Tanzes im entstofflichten Raum auf andere Weise erfahrbar werden.“ Matthias Mohr, Künstlerischer Leiter Radialsystem

(DE) „Im Punkt online bin ich ja eher Kommunist…. (Ich stelle eh alles online – the highs and the lows – unmittelbar nach Premiere geht das hoch.)  Ich stehe auf dem Standpunkt, dass mit Steuergeldern generierte Arbeit grundsätzlich allen zur Verfügung stehen, plus der Informationsbedarf gedeckt werden sollte. Deshalb finde ich dieses Rumgeeiere von den Theatern ziemlich albern: Da muss man sich anmelden und dann wird eine Show pünktlich um 19:00 Uhr gestreamt, mehr Blockwart geht nicht. Dahinter steckt wohl die Angst, sich unter Wert zu verkaufen. Dabei nutzen alle Online-Archive für Recherche – nur um die eigene Arbeit wird ein großes Geheimnis gemacht. Naja, die haben online nicht kapiert.“ Christoph Winkler, Choreograf

(EN) „Es war für mich von Anfang an klar, dass ich nicht umstelle auf Online-Formate, respektiere aber Kolleg_innen, die sich dafür entschieden haben. Auch Zoom, Jitsi oder irgendwelche anderen Formate lehne ich total ab, diese entfernen uns von einander und  bringen eine äußerst fragwürdige Hierarchie in die Kommunikation.“ Modjgan Hashemian, Choreografin

(EN) “To artists: Definitely stop streaming the dance you do in your bedroom because no one cares. The world’s on fire, read a book and let’s plan for the revolution to come. What if we took all this time on our hands to come together like never before? Never had time to go to the union meeting that works towards improving inequalities in the cultural field, now’s your chance! It’s time to make solidarity sexy again, right now it’s in retirement and there is no viagra in sight. It’s time to put our skills as artists, activists, thinkers and most importantly organizers making super charged social, political and theoretical work to the test. It’s time to organize. May we protect each other and be protected. May we put our attention towards the well being of the collective, no child left unattended. The fights we have to fight to maintain support systems in the cultural field are going to be harder than ever but fight we must, to maintain systems of support for the arts.” Jeremy Wade, choreographer

Still image: Online performance „You OK Bitch?“, Jeremy Wade / The Battlefield Nurse, Video: Imogen Heath ©Jeremy Wade