Isabelle Schad, Solo „Fur“ mit Aya Toraiwa, Probenfoto Frühjahr 2020 ©Isabelle Schad

Über kommunizierende Körper: Isabelle Schad im Interview

Eigentlich wäre im Juni zum ersten Mal zusammenhängend Isabelle Schads Trilogie aus „Collective Jumps“, „Pieces and Elements” und „Reflection” im HAU Hebbel am Ufer gezeigt worden. Mit Jette Büchsenschütz spricht sie über Kontemplation, Kollektive und die Kraft, die von sich verschränkenden Körpern ausgeht – und es wird deutlich, wie aktuell ihre Stücke gerade heute sind. 

Anfang März, beim letzten großen Tanz-Event vor dem Lockdown, wurde Dein Stück „Reflection” im Rahmen der Tanzplattform Deutschland 2020 in München zur Eröffnung gezeigt. Wie ist es Dir seitdem ergangen? Wie gehst Du mit dem Virus und den fortdauernden Einschränkungen der künstlerischen Praxis um?

Dadurch, dass uns die Wiesenburg als Produktionsort zur Verfügung steht, hatte ich Glück im Unglück. Da viele Proben von Gruppen abgesagt wurden, konnte ich die freie Halle für Eins-zu-eins-Proben nutzen. So konnte ich in den letzten Wochen drei neue Soli entwickeln. Zwei hätten sowieso für die Sophiensæle im November entwickelt werden sollen, das dritte, mit der japanischen Tänzerin Aya Toraiwa, habe ich dazwischengeschoben. Beim Anblick von Ayas knielangen Haaren wusste ich sofort, dass ich etwas zum Thema Fell machen möchte. 

Für mich war diese Zeit also eher luxuriös, da sie mir ein nicht produktionsorientiertes Arbeiten ermöglichte; ein Arbeiten ohne Deadline, ohne einer Projektbeschreibung folgen zu müssen, ohne vorher Anträge geschrieben zu haben.

Bilder: Isabelle Schad, Solo „Fur“ mit Aya Toraiwa, Probenfotos Frühjahr 2020 ©Isabelle Schad

Der Shutdown warf aber auch eine Reihe von existentiellen Fragen auf: Wo stehe ich? Wie kann ich mich neuorientieren? Wie halte ich mich fit? Wie kann ich im Einklang mit mir selbst und mit der Umgebung sein? Die Zeit für mich selbst und die Soloarbeiten in der Wiesenburg, für meine Familie und Freunde und die Entschleunigung habe ich als sehr bereichernd empfunden. Ich habe die Zeit außerdem verstärkt für Meditation und Besinnung genutzt, um noch mehr bei mir selbst ankommen zu können – diese Auseinandersetzung mit dem Selbst ist für mich ohnehin ein großes Thema. Ich konnte die Zeit also gut nutzen und habe sie durchaus als heilsam und kontemplativ empfunden. Allerdings hat mir die Arbeit in der Gruppe auch gefehlt.

Und natürlich waren auch die Einschränkungen spürbar. Alle geplanten Gastspiele sind selbstverständlich abgesagt worden, unter anderem eine Südostasien-Tournee, die direkt nach der Tanzplattform geplant war.

Fünf Jahre – von 2014 bis 2019 – hast Du Dich mit der Frage, wie aus Einzelkörpern Kollektive entstehen können, beschäftigt. Die Trilogie aus „Collective Jumps“, „Pieces and Elements“ und „Reflection“ wäre in diesem Monat im HAU zum ersten Mal zusammenhängend aufgeführt worden. Gab es so etwas wie einen Initiationsmoment für die intensive Beschäftigung mit Kollektivkörpern und Gemeinschaftsbildung?

Ich war immer schon stark an Gruppen und einer Praxis des Miteinanders interessiert. Durch verschiedene Workshops, die ich auf Einladung des Goethe-Instituts auf der ganzen Welt geben konnte, habe ich viel darüber gelernt, was es bedeutet, eine Gemeinschaft zu bilden und eine gemeinsame Sprache in der Praxis zu finden. Auch die Entwicklung meiner eigenen Praxis war wichtig. Aus der Embryologie des Body-Mind Centerings (BMC®) habe ich die Idee eines zellulären Gleichseins übernommen. Ab 2013 kamen verstärkt Aikido und Shiatsu hinzu – beides Praktiken, in denen ein holistisches, ganzheitliches Sein von entscheidender Bedeutung ist. Aus diesen Einflüssen habe ich nach und nach eine eigene Trainingspraxis entwickelt, die sich im eigenen Training ständig weiter entwickelt und transformiert. Meine Praxis besteht aus einer Fusion aus dem, was ich selbst ständig lerne, und dem, was ich weitergebe: Geben und Nehmen. Yin und Yang.

Ein zweiter wichtiger Einfluss kam von dem bildenden Künstler Laurent Goldring, mit dem ich vorher bereits an zwei Soli – „Unturtled“ und „Der Bau“ – zusammengearbeitet hatte. Laurent hat mir den Hinweis gegeben, die Gruppe selbst als Raum zu betrachten, und mir vorgeschlagen, die Körper im Vergleich zu meinen vorherigen Gruppenstücken noch näher zusammenzubringen. In „Collective Jumps“ fanden unsere Arbeitsansätze zusammen. Ich beschäftigte mich derzeit mit Formen, die ihren Ursprung in Volkstänzen haben, jedoch auch als biologische Formen betrachtet werden können. Laurent brachte mit der Setzung des Kostüms seine Sicht auf Amplifikationen, auf Verstärkungen mit ein. Das Prinzip des Amplifiers haben wir ja gemeinsam seit „Unturtled“ erfunden.

Kannst Du die Entwicklung, die die Stücke in den Jahren durchlaufen haben, kurz zusammenfassend beschreiben? Wie haben sich Deine Vorstellungen von Kollektivität in diesen Jahren entwickelt und verändert?

In „Collective Jumps“ standen die Fragen im Vordergrund: Was ist Maschine und was ist Organ? Und welche Mechanismen machen ihre Ähnlichkeiten aus? Wie kann das Individuum in die Gesamtheit eintauchen, in ihr verschwinden, ohne dass das Selbst verloren geht? Wie wird ein einziges Organ aus einzelnen, unterschiedlichen Gliedmaßen sichtbar? Wie kann Kollektivität nicht als Aufgabe des Selbst verstanden werden, sondern als Bereicherung für jeden Einzelnen? In „Pieces und Elements“ stand die Landschaftsbildung und das Verhältnis zur Natur im Vordergrund. Das Individuum bekam hier mehr Raum – eine Erfahrung, die die Performer*innen auch beschrieben haben. In Reflection” ist die Freiheit des Einzelnen, Protagonist und treibender Motor eines Ganzen zu sein, verstärkt in den Mittelpunkt gerückt. Aber auch die Praxis hat sich im Laufe der Jahre verändert. Aikido wurde prominenter und damit das nach Außen schicken der Kräfte. Außerdem wurden konkrete Kräfte, die von außen einwirken, wie z.B. die der Drehbühne des HAU1 mit einbezogen. Und wie diese auf die Bewegung einwirken, sie beeinflussen. Der Grad der Eigenständigkeit hat in „Reflection“ definitiv zugenommen. Durch alle drei Arbeiten zieht sich der Aspekt der Achtsamkeit, des gegenseitigen Respektierens. Wie können wir uns von Konditionierung und Ego abwenden, um eine andere Beziehung zu uns selbst und zu Anderen zu finden? Hier gewinnt die Trilogie eine überraschende Aktualität und es wäre interessant gewesen, sie gerade jetzt zu zeigen.

Wie aber entsteht eine Gruppenarbeit, die weder nur aus autonomen Einzelpersonen besteht, noch aus Einzelnen, die sich einem Kollektiv unterordnen?

Um deutlich zu machen, was Gleichschritt bedeutet und welchem gesellschaftlichen System das entspräche, habe ich in Workshops immer wieder damit experimentieren lassen, wie es sich anfühlt, im gleichen Rhythmus zu gehen. Und dann genau das Umgekehrte probieren lassen: jede*r hört auf seinen/ihren eigenen Rhythmus. Je stärker jede*r lernt für sich selbst zu sein, obwohl man sich in einem gemeinsamen Ganzen befindet, desto interessanter und nicht-repräsentativer wird es. Eine Gruppe tendiert schnell dazu – einem totalitären System entsprechend – im Gleichschritt zu marschieren. Sich selbst zuzuhören und auf die eigenen Bewegungen zu konzentrieren ist zunächst der entscheidende Schritt – und immer wieder eine Herausforderung. 

Höre ich hier eine bewusst politische Dimension Deiner Arbeiten heraus?

Auf jedem Fall entspricht die Arbeit einem Nachdenken über Politik und ihrer Bewusstmachung  – oder über Mikropolitik, ein Begriff, den ich lieber verwende. Meine Arbeit entspricht eher einer Haltung mit der man sich gegen Konditionierung und Bürokratisierung des Menschseins wendet. Für mich ist diese Haltung, die ich als Künstlerin, Lehrerin oder Praktikerin einnehme, sehr bedeutsam. Es handelt sich um eine Praxis der Achtsamkeit und der inneren Ruhe wie auch Kraft, die Bezüge Selbst-Andere, Selbst-Welt in den Mittelpunkt rücken läßt. Es ist eine Praxis, die demütig ist und keine Arroganz zuläßt. Ich denke, in meinen Arbeiten tritt diese gesellschafts-politische Dimension durchaus in Erscheinung. Aber ich halte mich mit dieser Behauptung gerne zurück. Jede Zuschauer*in sieht was er/sie sieht, und bringt es mit eigenen Erfahrungen und Sichtweisen in Zusammenhang. Auf alle Fälle möchte ich, dass meine Arbeiten innere Kraft und Kontemplation ermöglichen und eigene Erfahrungsräume eröffnen.

„Reflection“ endet mit dem letzten Chorlied aus Bachs Matthäus-Passion, das, während der eiserne Vorhang heruntergelassen wird, den Raum erfüllt. Es handelt vom Umschlagen von Trauer in Freude angesichts des ermordeten Jesus von Nazareth, denn der christliche Glaube verspricht die Auferstehung der sterblichen Körper: „Wir setzen uns mit Tränen nieder, Und rufen dir im Grabe zu…“. Kannst Du heute rückblickend etwas zu diesem Abschluss Deiner Trilogie sagen?

Die Musik am Schluss ist ein Angebot, mit sich selbst und der Musik alleine zu sein. Ich hatte mich in „Reflection“ mit der Mächtigkeit des Apparats im Allgemeinen und des Theaters im Speziellen beschäftigt. Ich hatte ja den Auftrag, die Arbeit für das HAU1 zu entwickeln, das keine neutrale Black Box, sondern ein geschichtsträchtiger und sehr charakteristischer Ort ist, wo ich mir z.B. „Collective Jumps“ gar nicht hätte vorstellen können. Der Eiserne ist für mich ein Symbol dieser Kraft, die der Apparat mit sich bringt und die als überdimensionale, wenn nicht gar fremdbestimmende Kraft, die auf uns als Menschen wie auch auf unsere Gesellschaft einwirkt, verstanden werden kann. 

Die Musik – ich komme ja aus einer Musikerfamilie –  hat für mich eine starke Emotionalität und ist ebenfalls eines der Leitmotive in Pasolinis Film „Das Erste Evangelium – Matthäus“. Ich hatte mich in dieser Arbeit zum ersten Mal mit weniger abstrakten Themen, vielmehr mit konkreteren Motiven beschäftigt, die uns seit jeher in der Repräsentationsgeschichte begleitet haben. Ich wollte ein Ende anbieten, das im Prinzip jede*n betrifft bzw. betreffen könnte. Die Musik ist als Vorschlag zu verstehen, der jede*n auf seine/ihre eigene Geschichte zurückwirft. Wir sind zwar zusammen im Raum, aber jede*r einzelne ist auch für sich alleine. Und ich kann nicht abstreiten: In meinem Leben und in meiner Arbeit ist definitiv eine spirituelle Dimension stärker geworden. 


Das Solo „Fur“ mit Aya Toraiwa wird voraussichtlich am 31. Juli und 1. August 2020 in der Wiesenburg gezeigt.

Das HAU Hebbel am Ufer hat im Rahmen von #HAUonline Isabelle Schad “Collective Jumps” / “Pieces and Elements” / “Reflection” – Lektüre aus der Trilogie (2014–2019). Eine Sammlung von Elena Basteri veröffentlicht (Textbeitrag auf HAU3000, 10.06.2020).