Polina Semionova als Schwan in “Der Karneval der Tiere“, Video-on-Demand Staatsoper Berlin ©Katja Vaghi

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Die Veranstaltungsabsagen durch die Covid 19-Maßnahmen haben nicht nur die freie Tanzszene beeinträchtigt. Wie haben die größeren Häuser während der Pandemie reagiert? Ein kurzer Blick auf das Staatsballett Berlin anlässlich der Teilnahme Polina Semionovas am Konzert “Der Karneval der Tiere” von Camille Saint-Saëns in der Staatsoper Unter den Linden.

Auch größere Häuser müssten neue Wege gehen, um an ihr Publikum heranzukommen während der Pandemie. Die Staatsoper und das Staatsballett haben sich für verschiedene Streaming-Formate entschieden – unter anderem das aktuelle spartenübergreifende Konzertprogramm, das auf ihrer Website zu finden ist. Das fünfte Konzert – noch bis Freitag, 19. Juni 2020 um 19 Uhr als Video-on-Demand zu sehen – sollte auch Tanz-Affine interessieren. Camille Saint-Saëns “Der Karneval der Tiere: große zoologische Fantasie für Kammerensemble“ beinhaltet nämlich ein Ballett-Urbild, das sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts in unserem kollektiven Unterbewusstsein angesiedelt hat. Welches, wird erst später verraten.

Ich muss zugeben, ich wusste nicht, was ich erwarten sollte, als ich das Abendprogramm gelesen habe. In dem leeren Großen Saal der Staatsoper Unter den Linden an den Klavieren sitzen Daniel Barenboim und Thomas Guggeis umkreist von anderen Mitgliedern der Staatskapelle Berlin, und angekündigt sind Jan Josef Liefers als Sprecher von Loriots Text und Polina Semionova als Schwan.

Die kurzen Text-Einlagen von Loriot bringen die leeren Stühle zum Leben: plötzlich sind wir unter einem Publikum von lauten, bunten Tieren, und auf unserer inneren Bühne wechseln sich Truppen von tanzenden Schildkröten, Eseln, Kolibris ab, eine Elefantin schwebt herein. Ich merke auch, dass ich ganz viele Melodien schon verinnerlicht habe, ohne zu wissen, dass sie zu diesem Saint-Saëns Werk gehören. Die Charaktere lesen meine Gedanken, als sie immer häufiger fragen, wann denn nun der Schwan komme. Es hat bis Mitte des halbstündigen Konzertes gebraucht, bis ich es endlich kapiert habe: es handelt sich um das bekannteste Solo-Ballett überhaupt, das von Michel Fokine für Anna Pavlova choreografierte Solo “Der sterbende Schwan”, uraufgeführt 1905 im Mariinski-Theater.

Über 4000-mal überall in der Welt wurde es von der Botschafterin des Balletts und damaligen Massenmedien-Sensation Pavlova getanzt, und wohin Pavlova nicht kam, ist die Hollywood-Verfilmung “La Mort du Cygne” von 1925 gekommen. Endlich ist es da, ganz am Ende und nur 3 Minuten lang. Semionova gleitet auf ihren Spitzen auf einem winzigen Podest hinter den Musikern. Sie hat sehr gut getanzt, aber ich habe ihre Arme noch flüssiger erlebt. Die Musikalität ihrer Interpretation hat mich am meisten beeindruckt. Ich habe das Solo schon oft mit Tonband-Musik gesehen, doch das Erlebnis der Begleitung durch die Cellistin Sennu Laine war total überzeugend. Als die Vorstellung zu Ende ging, und sich alle vor dem leeren Saal verbeugten, aus welchem kein Applaus kam, war das ein schmerzlicher Moment. Etwas Zentrales hat gefehlt. Es muss merkwürdig sein, vor leeren Plätzen zu tanzen, ohne die Energie des Publikums spüren zu können. Das Publikum kumuliert sich im Internet, in das die Aufführung übertragen wird und so mehr Leute erreicht als im Theater möglich (über 11.000 Aufrufe, Stand heute).

Ich selber habe das Video mehreren Familien mit kleinen Kindern empfohlen, die sicher nicht in die Oper gehen würden. Ballett mit seiner Illusion der vierten Wand sollte besser für das Streaming geeignet sein als die Vorstellungen der freien Szene. Trotzdem fehlt etwas.

Wie viele in der Pandemie, hat das Staatsballett Berlin auch einiges unternommen. Repertoire-Aufzeichnungen von Patrice Barts “Schwanensee” und “Nußknacker” wurden via Streaming gezeigt, zusammen mit kurzen Verfilmungen aktueller Proben vor der Schließung. Dazu gab es auch ein Social Media ad-hoc-Programm mit kürzeren, zusammengeschnittenen Videos der Tänzer*innen während ihrer Übungen und andere einzelne Initiativen der Tänzer*innen, wie eine Ketten-Choreographie oder eine Spitzen-Collage, die auf Facebook und (dem super gestylten) Instagram veröffentlicht wurden. Besonders lustig ist Daniil Simkin als verzweifelter Solor aus “La Bayadère”, der nicht auftreten darf, oder als Basilio aus “Don Quixote”, der versucht mit Kitri (Maria Kochetkova) zu facetimen. Vor der partiellen Öffnung – die Tänzer*innen sind inzwischen wieder im Studio-Training – konnte man regelmäßig mit einigen der Solist*innen auf Instagram trainieren. “Der Karneval der Tiere” war ein Anlass, von dieser Schlüsselloch-Perspektive wegzukommen, und die Tänzer*innen wieder in Aktion zu sehen. Ein Solo ist selbstverständlich die beste Lösung in dieser Zeit, in der man Abstand halten soll – aber es scheint noch was anderes zu köcheln beim Staatsballett, und es lohnt sich, dies weiter im Blick zu haben. (Selbstverständlich ist die Frage nach der neuen Intendanz noch offen, aber davon sind noch keine Neuigkeiten in die Öffentlichkeit gedrungen.) Mein Fazit: man hat genug hinter die Kulissen geschaut, jetzt könnte man langsam wieder vor ihnen tanzen.


Zum Video-on-Demand Stream der Staatsoper Berlin (abrufbar Freitag, 12. Juni 2020, 19 Uhr bis Freitag, 19. Juni 2020, 19 Uhr) >>> Camille Saint-Saëns »Der Karneval der Tiere« unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim, mit Polina Semionova als Schwan und Jan Josef Liefers als Sprecher.