„NO LIMIT“, Angela Alves ©Angela Alves

Eine Utopie jenseits von Norm und Anti-Norm

In greller Tutti Frutti-Ästhetik inszeniert Angela Alves mit „NO LIMIT“ (Zoom-Premiere 16. Juni 2020 in den Sophiensælen) eine verdrehte Welt, in der Behinderte die normgebende Mehrheit bilden und Nicht-Behinderte unter Syndromen wie KNZR (Kommt nicht zur Ruhe) und KKG (Kennt keine Grenzen) leiden. Die Spielshow praktiziert Barrierefreiheit ohne uns pädagogisch zu belehren.

In Nicht-Corona-Zeiten hätte ich mir „NO LIMIT“ nicht angeschaut. Ich wäre im Bett geblieben, mit einem frisch operierten, angeschwollen Knie, das ich nicht beugen kann, das gekühlt und hochgelagert werden muss – und hätte irgendwas uninteressantes auf Netflix geschaut. Den Aufwand, in die Sophiensæle zu humpeln, um dort eine Stunde mit ständigem Zwicken im Knie still sitzen zu müssen, hätte ich mir nicht angetan. 

Seit einer Weile bieten die Sophiensæle sogenannte „Relaxed Performances“ an, die in zwangloser Atmosphäre mehr Inklusion ermöglichen sollen. Es ist erlaubt, rein und raus zu gehen, sich leise zu unterhalten und sich zu bewegen. Angela Alves’ „NO LIMIT“ wäre dann so etwas wie eine hyperrelaxed Performance, denn die Show findet nicht wie geplant live, sondern mithilfe von Zoom im Virtuellen statt. Und es ist genau dieser Aspekt des Digitalen, der mir – als temporär Mobilitätseingeschränkte – nun Zugang ermöglicht. 

Während also ein Kühlpad auf meinem hochgelagerten Knie ruht, beginnt „NO LIMIT“. Die in einer schrillen Neunziger Jahre Ästhetik inszenierte Show will eine größtmögliche Barrierefreiheit für die Zuschauer*innen herstellen. Ihr Rhythmus ist bestimmt von parallel angeordneten Übersetzungshilfen in Form von Audiodeskriptionen, Gebärdensprache, Untertiteln und der Möglichkeit die Beschreibungen im Chat-Room als Screenreader vorgelesen zu bekommen. Die dabei entstehenden Pausen, Übersetzungsschleifen und Verdopplungen und das dadurch verlangsamte Tempo, machen uns Nicht-Behinderte mit unserem Effizienz-Denken manchmal ungeduldig und geben uns genau dadurch deutlich zu verstehen, dass unsere Erwartungshaltung, Zeit produktiv und effizient zu nutzen, extrem fragwürdig und egozentrisch ist. Daher lassen sich für die Einführung alle sehr viel Zeit. Sehr detailliert beschreiben der Gebärdendolmetscher Gal, die gehörlose Moderatorin Athina, die Erzählerin Simone, die Tänzerin (und künstlerische Leiterin der Show) Angela, der Musiker Christoph, wie sie aussehen und vor welcher Kulisse sie agieren. Ihre grell-bunten Retro-Kostüme, Sternenhimmel-Hintergrund und die Regenbogentreppe zitieren offensichtlich die parodistische RTL-Show „Tutti Frutti“ aus den frühen 1990er Jahren – und „Tutti Frutti für alle“ verspricht die heutige Einladung zu „NO LIMIT“ ihrem Publikum. Es folgt ein interaktives Showelement; eine Umfrage, in der wir beantworten können – aber nicht müssen –, ob wir z.B. eine Behinderung haben, ob wir uns zur Norm zählen oder ob wir wissen, was ein Crip ist – nämlich eine Community von Menschen, die sich einer diskriminierten Minderheit zugehörig fühlen.

Der eigentlich Hauptteil macht deutlicher, worum es hier geht. In einer Talkshow-Sequenz, in der Angela Alves, die personifizierte Vertreterin der Minderheit der Nicht-Behinderten, von Athina interviewt wird, erfahren wir: Menschen ohne Behinderung hätten es hier schwer, wenn man nicht solidarischerweise für ihre Inklusion sorgen würde. Denn die Behinderten-Community definiert hier Norm. Aber Angela will gar nicht inkludiert werden. Sie fordert Empathie, die Anerkennung ihrer ganz besonderen individuellen Leiden (KNZR, KKG) und Bedürfnisse. Prompt erhält sie Mitleid für ihren bedauernswerten Minderheitenstatus: „Diversitätshilfe“ nennt das Athina. Und wie tanzt sie nun trotz ihrer Nicht-Behinderung? Aber da wird Angela auch schon das Wort abgeschnitten… So genau möchte man es dann doch nicht wissen.

Als gegen Ende der Show in drei Zoom-Fenstern Angela, Athina und Gal eine Art sinnfreie Gebärdenchoreografie aufführen, die immer chaotischer wird, kommt auch Simones sprachliche Übersetzung an ihre Grenzen. Und mir dämmerts: hier geht es nicht darum, dass ich – behindert oder nicht-behindert – alles nachvollziehen kann, sondern um eine engagierte Gelassenheit, die sich weniger um Definitionen von Inklusion kümmert, aber um ein ständiges neu Verhandeln unserer sozialen Normen. Gerade jetzt.


„NO LIMIT“ von Angela Alves wird noch einmal heute Abend, 18. Juni 2020, um 20.00 Uhr in den Sophiensælen gezeigt. Dauer: 75 Minuten. Teilnahme über Zoom, mit der Registrierung vorab erhält man einen personalisierten Zugangslink zum Webinar (Ticketpreis: 5 Euro).


„NO LIMIT“, Premiere 16. Juni 2020, Sophiensæle Berlin — Künstlerische Leitung, Choreografie, Performance: Angela Alves — Dramaturgie: Alexandra Hennig — Performance, Choreografie: Athina Lange — Performance, Gebärdensprachdolmetschen, Choreografie: Gal Naor (The progressive wave) — Performance, Audiodeskription: Simone Detig — Sound, Performance: Christoph Rothmeier — Setdesign: Philippe Krueger