„Scores for the Time Being“, Scores for Gardens, Screenshot ©Scores for Gardens

Zerstreutes Gärtnern

Als Teil der vom Radialsystem initiierten Reihe New Empathies hat das Kollektiv Scores for Gardens vom 25. bis 29. Mai 2020 zu einem einwöchigen partizipativen Workshop eingeladen, der mithilfe von Scores einen nicht nur virtuell wuchernden Garten erschaffen möchte. 

Die Geschichte des Gartens ist voller Widersprüche. Als künstlich angelegtes Terrain erzählt der Garten von Domestizierung, Ausbeutung und Abgrenzung. Gleichzeitig versinnbildlicht er einen paradiesischen Sehnsuchtsort, die Utopie eines herrschaftsfreien Zusammenlebens der menschlichen mit der außermenschlichen Natur.

Der Garten, der in der vergangenen Woche während des Workshops „Scores for the Time Being“ angelegt wurde, war konzipiert als ein temporärer und zugleich virtueller Ort der Zusammenkunft. Ein Ort der gemeinschaftlichen Pflege und des Gedeihens, an dem Nähe und Ferne sich verschränken sollen.

Montagfrüh: Die rund zehn Teilnehmer*innen und die Initiator*innen des Workshops Katrine Elise Leth Nielsen, Angeliki Tzortzakaki und Juan Felipe Amaya Gonzáles, die zusammen die interdisziplinäre Forschungsgruppe Scores for Gardens bilden, kommunizieren ihre Erwartungen an den Workshop. Es ist das erste von zwei Zoom-Meetings – ein kleiner Leseabend wird spontan am Mittwochabend dazwischen geschoben –, die die Workshop-Woche säumen. Der entscheidende Rest des Workshops findet in der Wirklichkeit unserer privaten Räume statt, jede*r für sich, im eigenen Rhythmus, ohne in realen Kontakt mit den anderen Teilnehmer*innen zu kommen. Ein Google Drive Ordner dient als Gartenraum der virtuellen Zusammenkunft, in dem die schriftlich, bildlich oder sonst wie materialisierten Gedanken und Assoziationen, die im Laufe der Woche entstehen, deponiert und zu einem Garten zusammenwachsen sollen. Sind Resonanzen oder sogar Synchronisierungen nicht nur zwischen jedem einzelnen von uns und seiner Umgebung, sondern auch zwischen den Teilnehmer*innen möglich, auch wenn wir uns nicht persönlich treffen können, wenn uns hunderte von Kilometern trennen? Können wir Empathie auf digitaler Ebene herstellen?

Jeder Tag beginnt mit einem Newsletter, der neben unzähligen versteckten Hyperlinks, die zu immer neuen Inspirationsquellen wie zu einem Video über Twerking oder zur schönen, sphärischen Musik von Hiroshi Yoshimura führen, eine Aufgabe, einen Score enthält. Eine täglich zu wiederholende Hör-Meditation soll uns darauf einstimmen. Eine „hidden library“, die sich ebenfalls im Google Doc befindet, liefert Hinweise auf wissenschafts- und kulturkritische Texte, unter anderem von Ursula K Le Guin und Hu Fang. Die Scores, die ganz im Sinn einer postmodernen Partitur die Freiheit der Interpret*innen einschließen, die also ausdrücklich nicht dazu auffordern, etwas zu reproduzieren oder zu produzieren, sondern ein gemeinsam praktiziertes Assoziationsspiel in Gang setzen möchten; diese Scores sind bewusst offen formuliert und bieten Raum für eine zerstreute, d.h. unzensierte und unzensierende Aufmerksamkeit.

So werden wir am ersten Tag gebeten, Geräusche zu sammeln und zu verstärken, d.h. zu resonieren, am zweiten die Feuchtigkeit unserer Umgebung zu bestimmen und am dritten Tag Vibrationen und Frequenzen wahrzunehmen und festzuhalten – alles im Medium unserer Wahl. Diese Assoziationen, Zerstreuungen und Abweichungen werden als Setzlinge in den digitalen Garten gepflanzt. Ein Garten entsteht, in den wir eingeladen sind, herum zu wandern, zu verweilen und zu beobachten, welches Saatgut die Ko-Gärtner*innen hinterlassen haben. Nach drei Tagen beginnt der Garten langsam zu gedeihen. Er wächst zusammen aus verstreuten Sinneswahrnehmungen und zirkulierenden Assoziationen, manche verhalten sich sympathisierend zueinander, andere korrelieren weniger gut miteinander. Eine poetisch-phantastische Gartencollage aus Fotos, Soundfragmenten, Videos, Zeichnungen, Zitaten und aufgeschriebenen Gedanken beginnt im Google Doc Ordner vor sich hin zu wuchern. Allmählich entpuppt sich dieser Ort, der immer mehr einem Irrgarten gleicht als einem Nutzgarten mit geometrisch abgezirkelten Beeten, als ein Zwischenbereich, ein Spielraum, der in einer zeiträumlichen Verschiebung die virtuelle Online-Welt mit der realen Offline-Welt verbindet. Entfernungen und Annäherungen erscheinen hier nicht mehr als gegenläufige Bewegungen, sondern als ineinandergreifende Fluchtlinien. 

Freitagabend: wir treffen uns via Zoom zu einer den Workshop abschließenden Gartenparty. Nach einem kurzen gemeinschaftlichen Spiel werden die Eindrücke – überwiegend positiv, als Erfahrung von Momenten gelungener Synchronisierungen – dieser Woche ausgetauscht. Was möchte ich im Garten zurücklassen? Was begraben? Und: was genau ist jetzt dieser „Score for the Time Being“? Ein Resonanzraum für alles Lebendige? Ein Raum, der Momente virtueller Empathie ermöglicht?

Ein Satz aus Virgina Woolfs Roman „Zwischen den Akten“ kommt mir in den Sinn: „Sie jammerte: Zerstreut sind wir, als die Zuschauer das Gras mit Farbe sprenkelnd, über den Rasen und die Wege entlang dahinströmten: Zerstreut sind wir.“ 


Die nächsten Veranstaltungen der Online-Programmreihe „New Empathies – Far from a distance“ des Radialsystem finden am 6. und 13. Juni 2020, um 20 Uhr statt. Der Eintritt ist frei, Teilnahme nach Anmeldung.

Auf tanzschreiber.de: New Empathies-Online-Performance von Juan Dominguez: „My Only Memory; A Choreography to Listen To“, Annette van Zwoll, 4.5.2020.