„Stadterweitern“ – Ein Projekt von Sabine Zahn ©Constanze Flamme

Stadterweitern — (Aus)Dehnung der Sinne im urbanen Umfeld

Nach tagelangem häuslichen Aufenthalt hat mir das Praxislabor EINS von Sabine Zahns Projekt “Stadterweitern” ermöglicht, meine Sinne neu zu entdecken (und dadurch auch ein Stück Berlins). Während des ersten von vier fünftägigen Labs, die an verschiedenen zentralen Orten in Berlin von Mai bis November 2020 stattfinden werden, konnte ich den Ernst-Reuter-Platz näher erleben. Teil des Labs EINS waren auch eine Performance Lecture und ein Gespräch.

Seit längerer Zeit ist der Schwerpunkt in Sabine Zahns Praxis, Instrumente aus den darstellenden Künsten im urbanen Kontext zusammenzubringen. Dadurch entstehen somatische Auseinandersetzungen mit der Stadt, die zu neuen Entdeckungen des urbanen Raums in der Form von Workshops und Auftritten führen. Mit der vierteiligen Reihe von Praxislabs “Stadterweitern” schliesst Sabine Zahn an ihre letztjährige Arbeit “Fremdgehen” an, partizipatorischen Duetten zur Entdeckung des urbanen Gefüges. Diese neue Recherchereihe soll die dort aufgetauchten Aspekte weiter vertiefen. Die Praxislabs EINS wurden vom Performer und Mapper Daniel Belasco Rogers und der Videokünstlerin Andrea Keiz geleitet, mit dem Ziel, unser Sensorium zu erweitern und es an besonders “irritierenden” Orten neu zu entdecken.

Dienstagmorgen, Ernst-Reuter-Platz:

Den grünen Fleck in der Mitte des Verkehrskreisels hatte ich schon lange bemerkt. Selber betreten hatte ich ihn aber noch nie. Einladend ist er nicht, und ich muss zuerst meinen Weg finden durch das Labyrinth der Unterführungen, die mich dorthin führen sollen. Ich komme zwischen zwei enormen Beeten von lila- und orangefarbenen Veilchen an, und bekomme einen Zettel in die Hand gedrückt. Dieser enthält eine Einstimmungsübung, und bald stehe ich alleine (Covid-Abstand-gemäß) mit geschlossen Augen in der Mitte eines stark befahrenen Kreisels, den Wind auf der Haut und zwischen den Haaren spürend. Danach wird mir ein mysteriöses Instrument gegeben, das niedrige und hohe elektromagnetische Frequenzen in Geräusche umwandelt, um die Umgebung auszuloten. Zur Verfügung stehen sieben verschiedene Arten. Das Gerät macht die unsichtbaren Energien, die uns einrahmen, für mich langsam sichtbar. “Ist es gut, ist es schlecht?”, ich versuche neutral zu bleiben. Mit der Zeit werden ich und die anderen um mich herum mutiger und mutiger: ich erkunde eine Straßenampel am Rande des Kreisels, und auch die anderen Teilnehmer*innen, die über die ganze Insel verstreut sind, sind alle mit komischen Aktivitäten beschäftigt. Wir haben uns den Platz angeeignet. Mit einer Teilnehmerin tausche ich mich über unsere Erfahrungen aus, und ich verlasse den Ort mit einer schönen Erinnerung eines magischen Moments umkreist von starkem Verkehr.


Fotos: „Stadterweitern“ – Ein Projekt von Sabine Zahn. Teilnehmende Praxislabor EINS im Mai 2020 ©Constanze Flamme


Als Begleitung des Praxislabors fand am Mittwoch die Lecture Performance “Im-Gehen-Verstehen” der Bewegungsforscherin Katja Münker statt (noch bis 20.05.2020 unter http://stadterweitern.de/material zu hören). In der Lecture, die dafür gedacht ist, beim Gehen gehört zu werden, setzt sich Münker mit den somatischen Aspekten des Verstehens anhand der Feldenkraismethode und Improvisationsstrategien auseinander. Verstehen ist nicht linear, und Münker fragt sich, wie “somatische Praktiken eine vielschichtige, aktiv gestaltete Form von Verstehen unterstützen können und welche gesellschaftspolitische Bedeutung das haben könnte.” Feldenkrais verlangt Körperwahrnehmung, während die Improvisationsstrategien helfen, Beziehungen zu navigieren. So können spielerische Zwischenräume entstehen und die Intersubjektivität erweckt werden. Am Samstag, nach einer Körperpraxis (ohne externe Tools), fand ein Gespräch mit dem Gast Dr. Martin Peschken, Kulturwissenschaftler und Architekturtheoretiker, statt, in dem die Teilnehmer*innen versucht haben, die eigenen Erlebnisse in Worte zu fassen. Der Austausch war lebhaft, da sich unter den Anwesenden viele im Projekt involvierte ebenso wie andere befanden, die sich mit ähnlichen Fragen befassen.

Immer wieder wird mir klar, wie es im Tanz und allgemein in den Darstellenden Künsten um Wissen geht, aber um eine andere Art von Wissen. Im Blog des A.PART-Festivals 2020 wird die Recherche dem fertigen Produkt vorgezogen (und so wird unterstrichen, dass der Weg wichtig ist und nicht nur das Ziel). In den Praxislabs von “Stadterweitern” wird das “Wissen-wie” (der Praxis) mit dem “Wissen-über” (der Wissenschaft) verknüpft.[1] Buchstäblich ‘hacked’ man die Instrumente der wissenschaftlichen Methoden wie Kamera, Video, Mikrophon und elektromagnetische Leser (aber nicht ausschließlich die der wissenschaftlichen, da die Wünschelrute kaum als solche eingestuft werden kann), um unsere Wahrnehmung zu ändern und eine erweiterte Erfahrung der Stadt zu erzielen. Dieser anderen Art von Wissen, das uns die Künste schenken, sollte mehr Raum und Wert gegeben werden.


Mehr über “Stadterweitern” findet Ihr unter: http://stadterweitern.de/about


[1] Pakes, Anna (2009) “Knowing through dance-making: Choreography, practical knowledge and practice as research” in Buttherworth, J. & Wildschut, L. (eds.) 2009 Contemporary Choreography: A Critical Reader. London: Routledge.