Ott & Agulló: „Reclaiming the live aspect of the Performing Arts in the current times“ ©Carlos Sfeir

Gegen Übersetzung?

Über die Möglichkeiten von Performancekunst in Zeiten der Kontaktsperre und wieso die Schließung der Theater auch als Chance gesehen werden kann. Überlegungen zu dem von Felix M. Ott und Diego Agulló initiierten und von der Tanzfabrik Berlin unterstützten Festival „Reclaiming the live aspect of the Performing Arts in the current times“.

Mehr als in allen anderen Künsten hängt die Wirkung von Tanz und Performance von der körperlichen Präsenz der Aufführenden, der Ko-Präsenz der Zuschauenden und von der realen Ausdehnung in Raum und Zeit ab. In der Pandemie jedoch stehen Körper unter potentiellem Verdacht. Plötzlich wird verlangt, Tanz aus der Distanz und in der Abwesenheit zu suchen. Allein in den eigenen vier Wänden – oder unter den strengen Regeln des Mindestabstands und Veranstaltungsverbots?

Es scheint fast so, als hätten manche sich damit abgefunden, dass Performance, Tanz und Theater in Berlin bis frühestens Ende Juli nur noch als Ereignis im Digitalen stattfinden kann. Während viele Performer*innen gleich zu Beginn der Kontaktsperre Videoaufzeichnungen zum Streamen bereitstellten, haben die Performancekünstler Felix M. Ott und Diego Agulló, unterstützt von der Tanzfabrik, das Projekt „Reclaiming the live aspect of the Performing Arts in the current times“ initiiert. In einer zunächst zweiwöchigen Konzeptionsphase Ende April haben zehn Teilnehmer*innen (Diego Agulló, Urs Dietrich, Rosana Escobar, JOVENDELAPERLA, Oscar Loeser, Daniela Medina, Nina Barret Mémy, Felix Mathias Ott, Kiana Rezvani und Carlos Sfeir) gemeinsam über die Frage nachgedacht: „How to make performing arts during the current situation within the given possibilities but without relying on online formats?“ Wie und unter welchen Bedingungen und ob überhaupt die Arbeiten gezeigt werden können, wurde bewusst offen gelassen, beziehungsweise änderte sich im Laufe dieser zwei Wochen stetig.

„The initial idea of the project was to reclaim that online streaming is not the only way to continue. I think it is problematic to accept that we live in a new virtual era and to accept that online is the new norm. There is a very important difference between translating an offline performance into an online stream and creating an online format from the very beginning“, erklärt mir Diego Agulló im Zoom-Interview, an dem auch Felix M. Ott teilnimmt.  

Denn der Übersetzungsvorgang, den Diego kritisiert, ist nur ein technischer Konvertierungsvorgang – wie das Umwandeln von Word in PDF. Der Inhalt der Performance bleibt davon völlig unberührt. Diesen Gedanken konkretisiert Felix M. Ott und insistiert: „Ich habe überhaupt gar kein Interesse daran, Performances, die live gedacht sind, in einen Online-Kontext zu übersetzen. Denn ich denke nicht, dass auf diese Weise die Atmosphäre eines Stückes vermittelt werden kann. Ich finde es im Gegensatz sehr inspirierend herauszufinden, wie mit den momentanen Restriktionen umgegangen werden kann und zu versuchen, trotz der Limitierungen weiter offline zu arbeiten. Es scheint mir durchaus möglich, Konzepte zu denken, die verantwortungsbewusst mit der Lage umgehen. Diese balancieren natürlich auf Messers Schneide.“ 

Was mit diesem vagen, aber wichtigen Wort Atmosphäre gemeint ist, zeigt sich ein paar Tage später vor dem realen Berghain. Sonntag frühmorgens Ende April, wenn die Sonne noch weit im Osten steht, treffen wir uns vor den auf unbestimmte Zeit verschlossenen Türen des Clubs – unserer heutigen öffentlichen Probebühne. Hier, wo normalerweise um diese Uhrzeit großer Andrang herrscht, ist es ziemlich öde und leer. Jetzt stehen, kauern, sitzen oder liegen rund zehn Personen auf dem Pflaster und reflektieren mit unterschiedlich großen Spiegeln das Sonnenlicht auf die neoklassizistische Fassade des im Schatten liegenden Gebäudes. Ihre sich verändernden Positionen werden von der wandernden Sonne dirigiert. Helle Flecken huschen wie ein Mückenschwarm übers dunkle Berghain – mal zögernd tastend mal hektisch suchend, während über dem Flachdach weiße Wolken ziehen. Plötzlich scheint der Mückenschwarm einen Eingang gefunden zu haben. Im vierten Stock, ganz oben rechts, steht ein Fenster offen. Wie auf Verabredung sammeln sich dort für einen kurzen Moment die Lichtflecken, um einer nach dem anderen in der Schwärze des offenstehenden Fensters zu verschwinden. Der Untertitel der Spiegel-Performance lautet: „Keep in Touch without Touching“.

Es folgt ein Spaziergang an die Spree, wo eine zweite Szene stattfindet, die unter einem Motto von Franco Bifo Berardi steht: „The effect of the virus lies in the relational paralysis it is spreading.” Das Wasser der Spree und mitgebrachtes Mehl verbindet sich in unseren Händen zu einem großen wabbeligen Gebilde, in dem sich alle Zutaten als Ko-Akteure materialisieren. Brotbacken als Ritual, um den Verlust unseres sozialen Beziehungsgeflechts zu bewältigen? 

Aber wieso die hygienische Zwangspause nicht nutzen, um zu pausieren und dem neoliberalistischen Produktionszwang, der ja auch in der Kunstszene vorherrscht, zu entkommen? Nichts-Tun, Bartlebys „I would prefer not to“, gewissermaßen die radikalste Protestform? Felix widerspricht: „In dem Vakuum sah ich zunächst ein großes Potential. Ich merkte jedoch schnell, dass dieses Vakuum mich nicht in einen Zustand versetzt hat, der für mich persönlich kreativ war. Umso wichtiger erschien es mir, die momentane Situation künstlerisch zu verarbeiten und sich auf diese Weise ein Stück Selbstverantwortung zurückzuholen. Gleichzeitig empfinde ich eine Art Autoritätsmüdigkeit. Die stumme Befolgung des Appells zuhause zu bleiben, erscheint mir keine Lösung der Lage. Vielmehr halte ich es für wichtig, Autoritäten auch zu hinterfragen. Ich meine hier weniger die Reglementierungen zu Kontaktsperre und Mindestabstand, sondern die Einschränkungen, die uns hindern, unsere Tätigkeit auszuüben. Unsere Kunstform ist Live-Performance. Besonders Tanz verlangt körperliche Präsenz. Als Tänzer*innen und Choreograf*innen beschäftigen wir uns vor allem mit Kontakt – also genau dem Aspekt, der momentan am striktesten limitiert ist. In diesen Limitierungen scheint mir aber auch ein kreatives Potential zu liegen. Um in unserem Arbeitsablauf nicht verloren zu gehen, suchen wir als Tänzer*innen und Choreograf*innen andauernd nach Limitierungen. Ich genieße diese durchaus im künstlerischen Bereich, aber als Privatperson habe ich damit Schwierigkeiten.“

Ein protestierendes Nichtstuns ist auch für Diego keine Option: „I think art becomes even more valuable during times of crisis. This might be the right moment to claim that art is as systemically important as being a doctor or a nurse. Art is an essential profession, also because we are the experts on uncertainty.“ Diego sieht wie Felix in den erheblichen Einschränkungen auch eine Chance: „Maybe artists have already been too comfortable inside the institutional frame of a theater. Maybe it is time to get out of the comfort zone and to rethink what it means to have an audience. I don’t regret that theaters are closed.“ Kunst also als eine ganz spezielle Strategie der Krisenbewältigung, die gerade in der jetzigen, von einem unbekannten Virus ausgelösten Krise, dringend gebraucht wird? Die poetische Handlungsrelevanz der Kunst liegt vor allem in ihrem Vollzug als Praxis. Eine Praxis, die momentan umso dringlicher wiedererobert und aktualisiert werden muss – das Risiko zu scheitern inklusive. So jedenfalls ist auch Diegos Bemerkung zu verstehen: „I want to reclaim the poetic power of art not the productive aspect of it.“

Das Solo von Urs Dietrich, das ich dann am Sonntagnachmittag an der offenen Tür des Probestudios aus der Distanz beobachten kann, wird leider erstmal ohne Publikum bleiben. Eigentlich ist es als eine Art Loop konzipiert, vor vier, jeweils wechselnden, zuschauenden Menschen. Der 61-jährige Tänzer Urs Dietrich bewegt sich in einem klinisch sauber inszenierten Studio, das Gesicht ebenso wie seine Schutzkleidung fahlgrau, sein Mund umschließt einen Schlauch. Seine futuristisch anmutenden Bewegungen scheinen seine Umgebung neu zu erproben. Ein postpandemischer Körper, der seinen Raum – eine vorschriftsmäßige Isolierstation – nicht mehr kennt, ihm nicht mehr vertraut und seine Grenzen nicht mehr berühren darf. 


Felix M. Ott und Diego Agulló planen außerdem eine kleine Publikation zu „Reclaiming the live aspect of the Performing Arts in the current times“.