„Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett“, LIGNA ©Tanz im August / HAU, Foto: Dajana Lothert

Wellen schwärmen

Statt des geplanten Bühnenprogramms gibt es bei Tanz im August dieses Jahr ein Online-Angebot an Gesprächen, Filmen und Soundarbeiten, eine digitale Konferenz und zwei Arbeiten im öffentlichen Raum. Das Medien- und Performance-Kunst-Kollektiv LIGNA lässt die Teilnehmer*innen von „Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett“ mithilfe von akustischen Anweisungen ein zerstreutes Kollektiv praktizieren, das doch ganz unter sich bleibt.

„Surrender to the now“ sind die letzten Worte, die wir durch unsere Kopfhörer hören. Das now ist die Wirklichkeit: die Pandemie. Auch deshalb stehen wir rund 130 Teilnehmenden im Hof der Uferstudios, jede*r für sich in einer Gruppe von mehr oder weniger Fremden. In der letzten Stunde haben wir den Anleitungen von zwölf internationalen Tänzer*innen und Performancemacher*innen gelauscht, die von LIGNA gebeten wurden, ein an die COVID-19-Situation angepasstes Radioballett zu entwickeln. Zwölf – dann doch nicht so – unterschiedliche Bewegungsanweisungen sind entstanden, die wir hintereinander, aber nicht immer deutlich voneinander getrennt, durch unsere Kopfhörer hören. Jede*r für sich, möglichst in einem Drei-Meter-Abstand voneinander entfernt. Mal mehr Aerobic, mal die Nachahmung von typischen Tiergesten, mal ein Spiel mit Rhythmus und Contra-Rhythmus, eine witzige Anleitung, die uns am eigenen Achselschweiß schnuppern lässt und ein kurzer Exkurs zu Walter Benjamin und Solidarität. Immer wieder werden wir aufgefordert, den Raum zwischen uns, die Luft, die wir teilen, die Abstände, die uns trennen, zu erkunden: „Explore the distance in solidarity“. Eine Anleitung, das Unsichtbare (Solidarität ebenso wie Luft) zwischen uns bewußt wahrzunehmen und auszutesten. Genau dieser Bereich, der uns voneinander trennt und uns verbindet, wird choreographiert. Die Bewegungen, die entstehen, gehören weder der einen noch der anderen Person – sie entstehen vielmehr zwischen uns und den Radiostimmen: „contagious dispersed collective“ wird es genannt. Was ist das für ein Kollektiv, das potentiell infektiös ist und deshalb zerstreut ist?

Es stellt sich dar als ein Schwarm ohne Zentrum, ohne Peripherie, ein offenes Beziehungsgeflecht in actu, eine „zerstreute Masse“ (Benjamin) – aber vollkommen abgeschottet nach Draußen. Konkrete Verbindungen zwischen den Teilnehmenden bleiben verständlicherweise sporadisch und distanziert; das Abstandsgebot verbietet vieles, aber die Aufforderung in der Distanz miteinander zu tanzen, langweilt und deprimiert mich. Warum erschließt sich mir hier keine Solidarität im Kollektiven? Wird es einen Unterschied machen, wenn am 30. August “Zerstreuung überall!” gleichzeitig hier in Berlin bei Tanz im August sowie beim Zürcher Theater Spektakel und dem Theaterfestival Basel erfahrbar gemacht werden soll?

Es sind vor allem Awareness-Übungen, zu denen wir immer wieder angeleitet werden: wir sollen uns auf unseren Atem konzentrieren, uns mit dem Boden verbinden, in ihn versinken, ihn vibrieren lassen, die Oberflächen um uns herum erkunden. Aber das mache ich seit fünf Monaten: to surrender, to breath, to be in the here and now. Mir wird bewusst, wie sehr ich es satt habe, mich nur noch mit mir und meinem Körperbewusstsein zu beschäftigen. Ich bin gelangweilt und leicht deprimiert davon, in meinem eigenen, isolierten Hier und Jetzt zu verweilen.

Die hohen Mauern, die den langgezogenen Hof der Uferstudios einschließen und vom Rest der Stadt abschirmen, verwandeln die Langweile in ein Gefühl der Beklemmung. Dieser von der Außenwelt abgeschirmte Innenhof, dessen Ein- und Ausgänge vom HAU-Personal kontrolliert werden, verhindern die Vermischung von Performer*innen und zufällig vorbeikommenden, unfreiwilligen Zuschauer*innen, die für vergangene Radioballette so entscheidend war. Ich vermisse ihre neugierigen oder verständnislosen Gesichter und unvorhersehbare Interaktionen. Aber die Mauern lassen keinen Raum für Unkontrolliertes.

Sind es vielleicht gerade diese unangenehmen Gefühle von Langeweile und Beklemmung, die  „Zerstreuung überall!“, dieses neue Radioballett von LIGNA, in uns auslösen will? Ein Versuch, mit diesen beiden Gefühlen, die jetzt weltweit unser soziales Leben beherrschen, klar zu kommen und trotzdem in Bewegung zu bleiben? Sich der Corona-Realität hinzugeben, nicht um sich ihr zu unterwerfen, sondern um nach eigenen Bewegungsmöglichkeiten zu suchen?

Etwas unbefriedigt verlasse ich den Hof der Uferstudios und radle weiter ins HAU2, wo ein Pulic Viewing-Bereich eingerichtet worden ist, um gemeinsam den Live-Stream des täglichen Onlineprogramms zu schauen. Auch die Bibliothek, die jedes Jahr durch Buchempfehlungen der beteiligten Künstler*innen erweitert wird, befindet sich hier. Von LIGNA finde ich nicht nur Walter Benjamin, sondern auch Judith Butlers „Notes Toward a Performative Theory of Assembly“, die die Bedeutung der physischen Präsenz kollektiver Akteure im öffentlichen Raum betont.

Zerstreut, gelangweilt und ratlos schlag ich auch den Benjamin Band auf: „Durch die Zerstreuung, wie die Kunst sie zu bieten hat, wird unter der Hand kontrolliert, wie weit neue Aufgaben der Apperzeption lösbar geworden sind.“ Etwas entspannter radle ich weiter.


„Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett“ von LIGNA, mit Beiträgen von Alejandro Ahmed, Bhenji Ra, Edna Jaime, Eisa Jocson, Geumhyung Jeong, Mamela Nyamza, Maryam Bagheri Nesami & Mitra Ziaee Kia, Melati Suryodarmo, Raquel Meseguer, Yuya Tsukahara + contact Gonzo, Dana Yahalomi / public movement findet nochmals am kommenden Wochenende, 29. und 30. August 2020, jeweils um 14 Uhr statt, dann aber vor der ehemaligen Post-Filiale, Hallesches Ufer 60.

Mehr Informationen zum Festivalprogramm von Tanz im August Special Edition 2020 finden sich hier.