„Familienporträt 1: ORBIT“, Laurie Young, Grayson und Milo Millwood ©René Löffler

Familienkosmos mit kreativen Schlupflöchern

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Bei den TANZKOMPLIZEN in der Schillertheater-Werkstatt bestätigt die Ausnahme zurzeit die Regel: Die 2016 gegründete Spielstätte für junges Publikum bleibt auch in Pandemiezeiten familienfreundlich. Zum Start der neuen Spielzeit bringt das Team rund um Livia Patrizi und Joachim Schloemer ihnen nahestehende Künstler*innen gemeinsam mit deren Partner*innen und Kindern in 25-minütigen Familienporträts auf die Bühne und an Berliner Schulen. Den Auftakt zu der coronatauglichen, insgesamt vierteiligen Serie zum Thema Fremdkörper machten am Wochenende Laurie Young und Grayson Millwood mit ihrem Sohn Milo. Ihr Stück „Familienporträt 1: ORBIT“ kreist um die Frage häuslichen Zusammenlebens und wirft Alltägliches aus gewohnten Bahnen.

Wie wäre es wohl, wenn man das eigene Familienleben einmal nicht aus der Innenperspektive erlebte, sondern von außen darauf schauen könnte, wie bei einem selbstgedrehten Video? Das Stück „ORBIT“, eines von insgesamt vier Familienporträts der Berliner TANZKOMPLIZEN, ist der spielerische Versuch, in Distanz zu dem zwischen vier Wände gebannten, mitunter scheinbar ewig kreiselnden Familienkosmos, zu treten. Genau drei Mal klingelt dazu in einer mit Klebeband nach und nach auf die Bühne skizzierten Wohnung der Wecker, und spult vor den Augen der Zuschauer*innen ein gemeinsames allmorgendliches Frühstücksritual ab: Der Vater verteilt Schüsseln und Cornflakes, die Mutter riecht an der Milch und schenkt jedem davon ein. Das Kind steht vom Tisch auf, um spielen zu gehen, die Mutter rennt hinterher und drückt dem Vater ein paar Becher in die Hand, die sie eigentlich gerade verteilen wollte. Auf das Unerwartete, so könnte man das Trio Young-Millwood-Millwood hier verstehen, ist im Familienalltag eigentlich immer Verlass. 

Genau dieses Unterbrechen von Handlungen, dieser mitunter nervenaufreibende, aber eigentlich harmlose Kontrollverlust über das eigene Agieren, ist es, der von Familie Young-Millwood ins Positive verkehrt wird. Und so krempeln sie ihre Sicht auf die Dinge ganz bewusst auf links, bevor sie vom immer Gleichen auf den Kopf gestellt werden. Wenn etwa Sohn Milo die zu einem Tableau Vivant erstarrten Eltern und deren voraussehbare Handlungsabläufe mit einer Art Körpermodellage auf andere Umlaufbahnen lenkt, so dass sie ihre Cornflakes daraufhin zu den Ohren, statt zum Mund führen, ist dem sympathischen Trio das Gekicher des jungen Publikums sicher. Die erwachsenen Zuschauer*innen wiederum dürften Gefallen an der hier dargestellten kindlichen Eigenschaft finden, Tradiertes handfest zu hinterfragen.

Das Ungewöhnliche im Gewohnten zu entdecken und auf das kreative Potenzial des vermeintlich Fehlerhaften zu setzen, ist am Himmel des zeitgenössischen Tanzes, der seine Fühler beständig in Richtung junges Publikum ausstreckt, jedoch wahrlich keine Neuigkeit mehr. Clément Layes etwa ist hier als Spezialist für den schöpferischen Umgang mit dem Scheitern unbedingt zu nennen, und verzeichnet bereits einige überzeugende Umsetzungen in diesem Bereich. Doch während Layes aus philosophischen Quellen schöpft und auf der Grundlage akrobatischer Fähigkeiten an allen nur denkbaren Zweifelsfällen tüftelt, nähert sich „Familienporträt 1: ORBIT“ in seiner Ästhetik eher der träumerischeren Verspieltheit des Objekttheaters an. Wenn Gegenstände hier ein Eigenleben entwickeln und den in der dritten Szene nunmehr allein am Frühstückstisch sitzenden Vater auf die Realitätsprobe stellen, dann weniger, um mit ihm ein abstraktes Denkspiel, denn vielmehr ein erzählerisch-figürliches Spiel mit Bewegung einzugehen – eine wie von Zauberhand über den Tisch laufende Milchtüte wird dann von einem durstigen Becher zum Milch-Einschenken angelockt, gefolgt von einer über den Tisch kriechenden und zur Raupe Nimmersatt mutierten Müslitüte.

Im weitesten Sinne lassen sich die eigenwillig agierenden Objekte hier sicherlich mit einem zwinkernden Auge auch als tückische Störenfriede denken. Doch wenn das Assoziationsfeld zum Thema „Fremdkörper“ in der Ankündigung der Familienporträts sowohl das Fremdfühlen im eigenen Körper während der Pubertät, wie auch Viren und rassistische Perspektiven auf Körper mit einbezieht, erscheint einem das mitunter schon etwas schwindelerregend hybridisierend. Alles in allem ist „Familienporträt 1: ORBIT“ ein sympathischer Einstieg in diese Serie, hätte aber, damit der Funke überspringt, im Spiel mit Wiederholung und Abweichung noch ein paar Schleifen mehr benötigt, um die Rollen und Anliegen der einzelnen Familienmitglieder und ihr jeweiliges Verhältnis zueinander klarer herauszuarbeiten.


„Familienporträt 1: ORBIT“ — ab 6 Jahren / ab 1. Klasse — Choreografie und Tanz: Laurie Young, Grayson Millwood, Milo Millwood; Musik: Karsten Lipp; Licht: Martin Pilz — Premiere: 29. August 2020 — Spielort: Schillertheater-Werkstatt oder Schule.

Das Stück kann für Vorstellungen in der Schule gebucht werden, ab 31. August bis Mitte November 2020, Uhrzeit kann individuell festgelegt werden.