„Alle Augen Staunen“, Lea Moro ©Dieter Hartwig

Ich sehe was, was du nicht siehst und das sieht immer anders aus.

Das Kinderstück „Alle Augen Staunen“ von Lea Moro verschreibt sich dem Modus von Transformation und Wandel und erinnert auch erwachsene Kinder an die Komplexität von Welt.

— Eindrücke aus einer öffentlichen Probe mit Gedankenabschweifungen[1] — 

Am Dienstagnachmittag der ersten Augustwoche werden wir zum Showing von „Alle Augen Staunen“ (Englisch: „All Our Eyes Believe und Französisch: „Tous les yeux s’émerveillent ) ins Studio 12 in die Uferstudios eingeladen. Choreografin Lea Moro gibt uns kindlichen und erwachsenen Zuschauer*innen vor Beginn dieses exklusiven, weil platzlimitierten Showings eine persönliche kleine Einweisung (das Stück dauert um die 50 Minuten, es folgt ein anschließendes Gespräch mit uns als Auswertung und Ausblick, alle freuen sich, dass wir gekommen sind, heute sei es ja sehr heiß, wer also was trinken möchte, gerne jederzeit, wer zwischendurch auf’s Klo gehen muss, auch kein Problem). Schon diese erste willkommen heißende Geste erinnert mich daran, warum ich gerne Theater für junges Publikum schaue. Es klingt banal, aber die Weise, wie das Publikum von Anfang an mitgedacht und wie hier Sorge für uns Zuschauer*innen getragen wird, vermisse ich manchmal in der Erwachsenenkunst. Auch, dass wir als Expert*innen der eigenen (Welt)-Wahrnehmung im Kreationsprozess integriert werden, macht hier besonders Sinn.[2] Wenn nämlich alle Augen staunen, sieht jede*r etwas anderes und das insbesonders, wenn kindliche und erwachsene Blickwinkel sich treffen.

Zu Wasser, an Land und in der Luft

Die Landschaft, die hier beständig aufgebaut und wieder verwandelt wird, erinnert mich im ersten Teil stark an einen Meeresgrund. Später im Gespräch herrscht darüber eher Uneinigkeit – für manche sind wir ganz klar auf dem Mond gelandet, andere denken an einen Vulkan (was mir einleuchtet, immerhin sind der Bühnenraum und alle sich bewegenden Objekte zunächst in Rot getaucht). Geben wir uns einen Moment meiner Illusion hin, befänden wir uns unter dem Meer: hier unten hängt eine Ansammlung von Eiswürfeln von der Decke (bzw. der Wasseroberfläche) herab, in deren Gesellschaft ein Müllbeutel aus glänzendem blauen Plastik sowie eine PET-Wasserflasche. In sicherem Abstand platziert, ist ein rätselhaftes, weil so aus der Realität gefallenes, Zelt aufgebaut; rote, wulstige Tentakeln hängen auf der anderen Seite, gegenüber ein rotes (Fischer?)-Netz. Dieser noch augenscheinlich unbewegten Landschaft scheint bereits ein Eigenleben inne zu wohnen, das erste Regungen zeigt, ohne sich von uns beeindrucken zu lassen. Und auf einmal beginnen die Landschaftselemente aufzuwachen. An diversen Stellen des Meeresgrundes wabert, vibriert und zuckt es – eine amorphe Choreografie kündigt sich an. Stellen wir uns vor, wir blicken mit neugieriger Gelassenheit in ein Aquarium – der Modus des Staunens ist hier einer, der weniger vom Spektakulären lebt, sondern unsere ureigne (kindliche) Aufmerksamkeit wachruft und einen unvoreingenommenen, wertfreien, mitunter abschweifenden Blick zulässt…

Was gehört wohin oder: jenseits von oben und unten

Ein wulstiges rotes Wesen bewegt sich fluide-mäandernd entlang der vordersten Zuschauerreihe. Ein anderes Geschöpf, das mich an ein übergroßes Pantoffeltierchen erinnert (nein, an einen Rochen! eine Flunder! weil es eine gewisse Flachheit verkörpert), kriecht in ausladender Diagonale über die Bühne, zwei andere Wulstwesen schmiegen sich zärtlich aneinander. Aus dem Rochen wird in meiner Vorstellung sogleich ein Krebs, ein Schuppentier, ein Nilpferd, ein Wal, ein Pottwal – Einzeller, Vielzeller, Vielfresser: fließende Übergänge.

Auf der Bühne formieren sich die eben noch einzeln agierenden Wulste (Würmer, Wurmfortsätze?) zu einem einzigen zart vibrierenden Haufen, der zugleich zu einer Felswand mit vielen Gesichtern erstarrt, um sich daraufhin wieder zu teilen… Mein Blick fällt auf ein einzelnes Geschwulst, das in das schon besagte Zelt hineinkriecht. Das bis dahin so konkret-gegenständlich erscheinende Objekt reagiert ausgesprochen emotional auf den Eindringling, zieht angewidert?/beleidigt?/verletzt? alles in sich zusammen, um sich schüttelnd sogleich wieder auszudehnen….Nach derlei nervöser Kontraktion, in der es mein Mitgefühl sicher hat, bäumt es sich schließlich auf und verwandelt sich auf einen Schlag zu einem bedrohlichen Ungeheuer, einem Raubtier, das auf die Pirsch geht, alle Viere von sich streckt und über die anderen Organismen und Kleintiere hinweg klettert, herum wütet, sich sogar bedrohlich nahe ans Publikum vorwagt, einen Greifarm ausstreckt und alsbald scheu zurückweicht, wenn sich ihm eine mutige Hand entgegenstreckt. Und wie das Zelt, das sich bis dahin eher in Zurückhaltung geübt hat, zum Wildfang wird mit dem die Pferde durchgehen, ist für mich das eindrücklichste Bild an diesem Nachmittag – es verschwimmt mit Erinnerungen aus Märchen und Filmen meiner Kindheit und ich werde die Vorahnung nicht los, dass dieses Wesen als wild gewordener Mustang oder Riesenkäfer bald durch meine Träume galoppieren wird…

„Der Ozean hat Fieber! Die Erde bebt vor Wut! Die Luft erstickt!“

Gerade, als ich mich frage, ob die Figuren in dieser Welt abstrakt bleiben (müssen) – und ich Gefallen daran finde – wird mein Blick umgelenkt: Da! Ein Gesicht! Nein, eine Maske! Ein*e Taucher*in, der*die sich aus scheinbar beständig nachwachsenden Stoffteilen herausschält und gleichzeitig immer mehr Stoff um den eigenen Körper drapiert. Nach und nach transformieren sich aus den anfänglich wabernden Wesen drei menschliche Gestalten, streifen ihre Masken ab, sodass wir sie am Ende (doch noch) zu Gesicht bekommen: Die Performer*innen Daniella Eriksson, Jorge De Hoyos und Michelle Moura scheinen sich ihrer selbst über die Erkundung des Raumes allmählich bewusst zu werden, räumen geschäftig Dinge von A nach B, beginnen, sich zu organisieren, und den gesamten Raum schließlich ganz in Blau zu verwandeln. An diesem Punkt kommt die Sprache hinzu: „Wusstest Du, dass Tintenfische alleine leben? Möchtest Du alleine leben? Aber Du müsstest mit acht von denen hier (Tentakel) leben…“ UND: „Der Ozean hat Fieber! Die Erde bebt vor Wut! Die Luft erstickt!“ – Klimawandel, Umweltzerstörung, der Mensch als ausbeuterisches Wesen – das alles liegt an diesem Nachmittag (ich möchte sagen „natürlich“) in der Luft, ohne dabei belehrend zu sein oder die Performer*innen in ihrem spielerischen Zugang zu dieser Welt einzuschränken. Hier stehen schlicht – und Kinder scheinen für gewöhnlich damit sehr viel besser umgehen zu können – widerstreitende Gefühle und Zustände ganz selbstverständlich nebeneinander und erlauben einen Blick auf die sich wandelnde Welt im positiven wie im negativen Sinn. Wenn die Zuschauer*innen am Ende in kleinen Gruppen mit den Performer*innen über das Klima des Stücks diskutieren oder selbst Oktopus-like über die Bühne robben, sind es wieder viele Augen die hier Gelegenheit bekommen, (immer wieder) über alles Mögliche zu staunen. 


[1] Anmerkung der Autorin: Für einige der Szenenbeschreibungen kann sie schwerlich auseinanderhalten, was sich tatsächlich so auf der Bühne ereignet und was ihre „kindliche“ Phantasie dem Stück im Nachhinein angedichtet hat. Dass diese Gedankenabschweifungen und Phantasiegebilde sich so eingeprägt haben, ist ihrer Meinung nach das besondere Potential der Choreografie und einer Eigendynamik von dem, was wir zu sehen glauben, wenn wir nicht nur unseren Augen Glauben schenken, oder: „All Our Eyes Believe“. 

[2] Am Ende des Showings werden kleine und große Zuschauer*innen auf die Bühne geholt, um gemeinsam mit den Performer*innen das eben Erlebte zu reflektieren und gemeinsam weiterzudenken und auszuprobieren: wie sich zum Beispiel ein Oktopus noch so bewegen könne, wann es im Stück besonders kalt oder warm war, woran wir uns gemeinsam erinnern können…


„Alle Augen Staunen“ von Lea Moro – Ein Tanzstück für junges Publikum (8+) wird am 2. September 2020 im Théâtre du Crochetan, Monthey (CH) uraufgeführt. Die Berlin Premiere wird im Rahmen von Tanz im August 2021 stattfinden. Weitere Informationen zum Stück sowie Vorstellungstermine finden Sie hier.