„Practicing Empathy“, Yasmeen Godder ©Tamar Lamm

Alle fallen, aber niemand fällt.

Als Abschluss ihres viertägigen Workshops „Practicing Empathy“ zeigt Yasmeen Godder während des SUBMERGE Festivals in den Lake Studios Berlin ihr gleichnamiges Stück – ein Gruppenritual, das uns zeigt, dass wir gerade jetzt dringend darüber nachdenken müssen, was Empathie bedeuten könnte.

Wir blicken in ein leeres, weißes Studio. Zwei Tänzer*innen stehen in Distanz zueinander im hinteren Bereich, still wartend, ruhig atmend. Als sie sich in Bewegung setzen, erscheinen drei weitere Tänzer*innen in unserem Blickfeld, das von mehreren Kameras dirigiert wird. Vier Tänzer*innen umkreisen eine fünfte, stemmen sie gemeinsam über ihre Köpfe und tragen sie durch den Raum. Nun sehen wir auch die sechste Tänzerin, die weit entfernt von der Gruppe steht und sie beobachtet. Sie wird nun ebenfalls eingekreist, angehoben und hoch über den Köpfen im Kreis herumgewirbelt, bis sie sich fallen lässt und behutsam aufgefangen wird. Dieses sich wiederholende Ritual des Einkreisens durch die Vielen und des gemeinschaftlichen Exponierens des Einzelnen erinnert mich an gruppentherapeutische Vertrauensübungen. Ist Vertrauen eine Voraussetzung für Empathie? 

Die tänzerischen Bewegungen werden von Anfang an begleitet von stimmlichen – aber nicht sprachlichen – Artikulationen. Diese vielstimmige, vieldeutige Vokalität verdichtet sich manchmal zu Gesängen, ihre Rhythmen gleichen sich an, werden schneller, ebenso wie die körperlichen Bewegungen zunehmend ekstatischer werden, um wieder bis zum Verstummen und bewegungslosen Verharren abzuschwellen. Töne werden vorgeschlagen, aufgenommen, weitergeführt.

Immer wieder bricht eine Tänzer*in aus den kreisförmigen Gruppenbildungen aus, ein*e weitere*r reagiert und kurze Duette entstehen, bis zum Ritual im kreisförmigen Schutzraum zurückgekehrt wird. Die Tänzer*innen gehen sichtlich auf die Bedürfnisse artikulierenden Körperbewegungen der anderen ein, nehmen sie auf, entwickeln das daraus entnommene Material weiter, aber ohne Zwang, ohne Differenzen zu nivellieren, ohne anzugleichen. Hinwendungen, ohne zu vereinnahmen. Ein Satz von Deborah Hay kommt mir in den Sinn: „Your practice informs my practice.“

Was zunächst den Eindruck eines zeitgenössischen Tanzstückes vermittelte, verwandelt sich nun zunehmend in ein tranceartiges Gemeinschaftsritual – an dem wir, die Zuschauer*innen, im fernen Berlin teilhaben. Denn Yasmeen Godder und ihre Company durften wegen der pandemiebedingten Reisebeschränkungen nicht wie ursprünglich geplant aus Israel ausreisen. Also fand der Workshop und die diesen abschließende Performance zwar weiterhin live, aber online, mithilfe von Zoom und Vimeo, statt. Der zweite Teil der Performance – Practicing Empathy #2 – konnte bis heute nicht gezeigt werden, denn das Publikum wäre Teil der gemeinsamen Übung geworden. Yasmeen Godders ursprüngliches Projekt „Practicing Empathy“ mußte also mehrfach an die sich ständig verändernde Pandemie-Wirklichkeit angepasst werden. Dieser Einbruch der Wirklichkeit in die künstlerische Praxis macht ihr Thema noch verwickelter.

Die Synchronisierung der Tänzer*innen Ortal Atsbaha, Or Ashkenazi, Carmel Ben-Asher, Ari Teperberg, Tamar Kisch und Nir Vidan untereinander funktioniert nun zunehmend über die Stimmen. Schließlich ist Godders Mantra „I want, I need, I fear“, das sie als Arbeitstool für ihre pratice benutzt klar und deutlich zu hören. Da wir im Workshop auch damit gearbeitet haben, ist es umso leichter, die Zustände nachzuvollziehen, die Godders Tänzer*innen gerade durchlaufen. Die Vibrationen ihrer Stimmen und das Gewicht ihrer Körper übertragen sich auf uns und als ob die Empfindungen der Tänzerin*innen ansteckend wären, hallen die Schwere ihrer Körper, die Berührungen in uns nach. Als alle sechs Tänzer*innen ineinander verschränkt aneinander lehnen, ohne nach hinten zu fallen, weil sie sich gegenseitig halten, fallen mir die Zeilen eines Rilke Gedichts ein: 

„Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

Unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Aber trotzdem: Wir schauen auf eine Wand in Berlin Friedrichshagen, auf die Projektion dessen, was in diesem Moment in Tel Aviv durchlebt wird und von den Kameras eingefangen wird. Es bleibt eine Lücke zwischen uns und den Tänzer*innen – trotz und wegen des vielen Atmens, ihrer Nähe zueinander und ihren innigen Berührungen bleiben sie so unerreichbar und unnahbar, weil sie uns an all das erinnern, was in Wirklichkeit gerade verboten ist. Als befänden sie sich in ihrer eigenen post-pandemischen Utopie, in einer anderen Welt, in der es noch erlaubt oder wieder erlaubt ist, körperliche Nähe zu praktizieren. Und so erscheint die reale Außenwelt plötzlich noch distanzierter, fremder, kälter, noch stärker als Gegenwelt, da unsere Realität in Tanzstudios, Bars und Clubs immer noch von Abstandsgeboten und Berührungsverboten bestimmt ist. 


Das SUBMERGE Festival läuft noch bis zum 12. September 2020. Informationen zu den Workshops und den Performances finden sich auf der Webseite der Lake Studios Berlin.