„In Zukunft bin ich ein Komet“, Yotam Peled ©Jörg Metzner

Tanz der Zukunft

Die 7. Ausgabe von PURPLE – Internationales Tanzfestival für junges Publikum zeigt die Uraufführung von „In Zukunft bin ich ein Komet“ von Yotam Peled im Theater Strahl für Zuschauer*innen ab 13 Jahren.

01:02:45 Warum leuchtet da die Zeit? fragt ein Mädchen in den vorderen Reihen bevor es losgeht. Das frage ich mich auch und habe schon eine Ahnung bevor das Licht im Zuschauerraum ausgeht, die Musik einsetzt und die von der Decke baumelnde leuchtende Zeitangabe anfängt, abzulaufen. Eine Stunde, zwei Minuten, 45 Sekunden. Der Countdown beginnt, die Zeit rennt. 

01:02:22 — Drei Tänzer*innen aka Zeitreisende (Jana Heilmann, Wibke Storkan, Kaveh Ghaemi) werden unter Stroboskoplicht aus dem Raumschiff auf die Bühne gespuckt. Sie befinden sich in einer hügeligen Landschaft bestehend aus spitzen, in die Luft ragenden Schaumstoffbergen, die sich durch bewegte Videoprojektionen stetig verändern (Bühne: Camille Lacadee und Alexis Mersmann). Da liegen sie nun, kleine Geschöpfe in einer großen Welt, unverhofft angekommen in einer möglichen Zukunft. Ist das noch die Welt, wie wir sie kennen, oder was ganz anderes? Benommen beginnen die Tänzer*innen, über den Boden zu robben, sich irgendwie aufzurichten, Schritte zu setzen, sich aneinander zu klammern, Halt zu suchen. Wo sind wir eigentlich?

Der in Israel geborene und seit 2015 in Berlin lebende Choreograf Yotam Peled hat für diese Choreografie mit jugendlichen Schüler*innen gearbeitet und mit ihnen gemeinsam Zukunftsrecherchen unternommen. Schulklassen der Albrecht von Graefe Oberschule und des Robert Koch Gymnasiums aus Kreuzberg sind mehrmals in die Proben gekommen, haben den Entstehungsprozess begleitet und gemeinsam große Lebensfragen umkreist: Wie wäre es, in die Zukunft reisen zu können? Was erwartet uns? Muss ich Angst haben? Und warum sind wir eigentlich alle hier?

48.04:27 — Es kann auch lustig sein in der Zukunft: Zwischen pantomimisch-gestischem und abstrakt-rätselhaftem Bewegungsvokabular hin- und herspringend versuchen sich die drei Tänzer*innen zu verständigen und die Bewegung der*s jeweils Anderen zu erraten: Rennen über die Bühne, sich aufplustern, auf die Brust trommeln, das Gesicht verziehen. Stark? Wütend? Karacho? Achso, Transformer. Richtig.

Gerade als ich mich frage, ob hier tänzerische Bewegung nicht etwas simpel als klar entzifferbares Zeichensystem vorgestellt wird, beginnt es im Ratespiel zu haken: Wibke Storkan und Jana Heilmann kommen nicht auf das, was Kaveh Ghaemi da tanzt: Erinnerung, Vorhersehung, undsoweiterundsofort. Muss denn immer alles eine Bedeutung haben? Kann es denn nicht alles nebeneinander gleichzeitig passieren? Ok.

35:22:03 — Die Hügellandschaft ändert sich stetig, himmelähnliche Visuals voller Farben werden abgelöst von lavaartigen Massen die träge und bedrohlich über die schwarzen Berge ziehen. Dämmerung zieht auf und Verunsicherung macht sich breit. Die drei Zeitreisenden schleichen über den Boden und stellen kleinlaut die ganz großen Fragen. Why are we here? What do we do? Where are the others? Where do we come from? WAS MACHEN WIR HIER? 

Meeresrauschen, Dunkelheit, Lava. Die drei Körper bauen sich zu einem schlangenähnlichen Wesen zusammen, dass sich in organisch-weichen Wellenbewegungen fortbewegt – langsam wandelnd wie im Traum. Die Zeit dehnt sich ins Unendliche. Time does not move. Space is not existing. Time is unreal flüstert es aus ihnen heraus.

14:17:37 — Wassermassen, Möwengeschrei, Wind, Wolken und Vulkane, bunte Farben. Die Landschaftsszenerie schillert jetzt zwischen apokalyptischem Untergang und imposanter Schönheit von Naturgewalten. Wibke Storkan steht allein zwischen den Hügeln, bewegt sich angestrengt und kämpferisch wie durch eine zähe Masse hindurch und dann wie von gewaltvollen inneren Kräften gesteuert. Bewegungsexplosionen brechen aus der Mitte ihres Körpers heraus und schießen in die Extremitäten, das Gesicht verzerrt sich, ein Würgen, Grimmassen ziehen, Zunge rausstrecken. Die Zeit schein zäh zu fließen. Bis sie schließlich aufschaut und zu uns spricht: Darüber, dass sie sich wünscht, die Zeit anhalten zu können, gestresst ist von dem Gefühl, die Zeit zu verlieren. Ob es uns auch so ginge?

Im Publikum sitzen erwachsene Menschen und junge Menschen zwischen 13 und 17 Jahren. Ich muss daran denken, dass die Zeit in diesem Alter voll ist von zu großen Fragen, Unsicherheiten und Peinlichkeiten. Und daran, dass vor ein paar Tagen viele junge Menschen bei Klimaprotesten in Lützerath von der Polizei weggetragen wurden, einige von ihnen noch minderjährig. Die Zukunft ist für Jugendliche wahrscheinlich immer ein aufregend-beängstigend großes Fragezeichen, für die jetzige Generation mit Blick auf den Klimawandel, auf Kriege und Krisen und eine scheinbar dauergestresste Gesellschaft wohl erst recht. Und die Frage, die sich ihnen (und uns) unhörbar aufdrängt, und die wir alle langsam nicht mehr ignorieren können, fiebert durch den Raum: Was ist mit unserer Zukunft?

00:00:00 — Alle starren auf die Zeitanzeige und halten kurz die Luft an. Die Zeit bleibt stehen. 

Irgendwann greift Jana Heilmann zu einer Fernbedienung, zuckt die Achseln und drückt auf den On-Knopf, dann laufen die Sekunden unbeirrt weiter, als wäre nichts gewesen. Time goes on.


„In Zukunft bin ich ein Komet von Yotam Peled (ab 13 Jahren) wurde am 18.01.2023 im Rahmen von PURPLE – 7. Internationales Tanzfestival für junges Publikum uraufgeführt und ist noch am 20.01. um 11 Uhr und am 21.01. um 19 Uhr im Theater Strahl zu sehen. Tickets unter purple-tanzfestival.de und an der Theaterkasse. Nächste Vorstellungstermine im Theater Strahl ab Februar 2023, Tickets unter theater-strahl.de.


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