„LOTUS. the child was stung“, Josefine Mühle. Videostream ©ada Studio / Aïsha Mia Lethen Bird

Ozeanisches Rauschen

Als Teaser zu der aufs nächste Jahr verschobenen Performance „LOTUS. the child was stung“ zeigt Josefine Mühle am 14./15. November 2020 auf der Website des ada Studio eine Videoarbeit, in der sie Aspekte der Pränatalpsychologie mit unseren Phantasien zu einer dichten Traumlandschaft verwebt.

Was hält sie in ihrem Schoß? Beschützt sie etwas? Und was steckt in ihrem Mund, verhindert Sprechen und Mimik? Wiederholt schwenkt ihr Kopf von unten nach oben. Wonach hält sie im Dunklen Ausschau? Gleich die ersten Bilder von „LOTUS. the child was stung“ versetzen uns in eine rätselhaft verfremdete Traumwelt. Wer sie betritt, ist der Wirklichkeit entrückt. 

Die Arbeit von Josefine Mühle, die auf der Website des ada Studio zwei Tage lang abrufbar ist, ist keine abgefilmte Performance, keine simple Konversion der Arbeit, die live präsentiert werden sollte, hätten nicht steigende Infektionszahlen einen zweiten Lockdown erfordert, sondern die ästhetische Übersetzung einer dreidimensionalen Aufführung in eine 15-minütige zweidimensionale Videoarbeit. Wie das Ergebnis der „Traumarbeit“ (Freud) wurde verdichtet, zerstückelt, verrätselt – und neu zusammengefügt. Was wir von der eigentlichen Performance zu sehen bekommen, ist eine Collage.

Der Filter, der über den Bildern liegt, färbt alles in ein blau-violettes Schimmern und weckt Assoziationen an ozeanisches Tiefseestauchen. Die Verfremdungstechniken lassen nur schwer erkennen, was Umgebung und was Objekt ist: Konturen zerfließen und zerflimmern, es entsteht eine eigentümliche Flächigkeit – und wie in unseren Träumen erscheint alles gleich nah, gleich bedeutungsvoll. Die melancholische, meditative Klaviermusik verstärkt die entrückte Atmosphäre. In einer zweiten Szene sitzt die Performerin aufrecht vor der Projektion eines Beamers, die ein merkwürdiges Gebilde zeigt, das ich nicht entziffern kann. Erkenne ich die Umrisse einer Plazenta (worauf der Titel einen Hinweis geben könnte)? Kurz darauf blicken wir in ihren weit geöffneten rosafarbenen Mund, die Zunge herausgestreckt, was unsere kannibalische Lust auf zerstörerische Einverleibung evoziert. Daneben, auf einem Splitscreen kontrastierend montiert, ein Lilienblumengebilde. Blau eingefärbt erinnert es an das Sehnsuchtsmotiv der deutschen Romantik. Wonach sehnen wir uns? Was können wir nicht aussprechen? Die Bilder, die Josefine Mühle hier nacheinander inszeniert, wecken Sehnsüchte nach einem Gefühl der Geborgenheit und symbiotischer Auflösung. Es sind Phantasien eines „ozeanischen Gefühls“, wie es Freud nannte: die Lust nach Selbst-Auflösung und die dazugehörige Sehnsucht nach Rückkehr in den mütterlichen Ozean. Eine phantasierte Erinnerung an ein Säuglingsstadium, das den Unterschied zwischen dem eigenen Körper und der „Empfindungsmasse“ seiner Umwelt noch nicht kennt? Eine Sehnsucht nach inniger Verbundenheit mit der Außenwelt, die durch die Ausprägung eines Ich-Gefühls im Erwachsenwerden üblicherweise verdrängt wird? 

Wir treiben weiter durch die blau-violette Atmosphäre, als Bild und Ton wechseln. Ein scharfes, brutales Sirren setzt ein und erst jetzt geht mir auf, was sich zu Beginn des Videos im Schoß der Performerin befand: das Steuerungsgerät einer Drohne. Es ist diese Überwachungsdrohne, von Josefine Mühle selbst gesteuert, die das fiese, zischende Geräusch erzeugt, das das ozeanische Strömen bedrohlich stört. Wie ein Über-Ich – unsere später verinnerlichte Gewissensinstanz, die uns ständig bewertet und bestraft – scheint sie über dem Trauminhalt wachend ihre Runden zu ziehen. Kann aber auch als die real übergriffige Störung einer als heil phantasierten Innenwelt durch die Pränataldiagnostik gedeutet werden. Der Titel „das Kindchen wurde gestochen“ verweist darauf.

Noch ein weiteres Instrument der eingreifenden Beobachtung wird ins Bild gebracht. Durch eine Art mikroskopische Linse blicken wir erneut auf ein nicht identifizierbares Etwas. Das Bild löst sich auf und wir sehen Josefine Mühles Rückenansicht. Das kreischende Sirren der Drohne setzt wieder ein und die Film-Collage endet mit einem harten, brutalen Cut. Schockhaft wie ein Geburtsakt. 

Ebenso wie bei ihrem letzten Stück „A Child Has Been Beaten“ (Konzept, Choreografie, Performance: Suvi Kemppainen, Josefine Mühle), das im Januar bei den Tanztagen Berlin 2020 gezeigt wurde, stehen in ihrer jetzigen Arbeit Phantasien und ihre psychoanalytische Analyse im Vordergrund. War damals die Stimmung noch affektgeladener und die Bühne in den Sophiensælen (Kantine) in ein aggressives rot-orangenes Licht getaucht – es ging um die unauflösbare Ambivalenz von sadistischer Dominanz und selbstquälerischer Unterwerfung, ist die Atmosphäre hier – dem intrauterinen Raum angemessen – gedämpft, melancholisch eingetrübt und entgrenzt sphärisch. Ausgangspunkt der Videoarbeit „LOTUS. the child was stung“ war die Beschäftigung mit pränataler Psychologie und der Frage nach der Herausbildung eines Bewusstseins – nach dem „Vorher“, wie Josefine Mühle es nennt. Was passiert in diesem intrauterinen Raum? Weshalb können wir uns nicht erinnern? 

Zum Wesen des Unbewußten gehört, dass es nie ins Bewusstsein aufsteigt. Es sei denn unkenntlich, verpixelt, im Traum, als Krankheitssymptom – oder als Performance. Nächstes Jahr.


Die Videoarbeit „LOTUS. the child was stung“ von und mit Josefine Mühle ist im Rahmen von neworks on screen vom 14. November 2020, 19 Uhr, bis zum 15. November 2020, 23:59 Uhr, auf der Website des ada Studio zu sehen.