Veiled Motions ©Rhea Ramjohn

Verschleierte Bewegungen

Rhea Ramjohn* reflektiert über die metaphorischen und materiellen Masken, die unsere alltäglichen Bewegungen und Interaktionen prägen. Die „Performance“, im Rahmen der Covid-19-Pandemie füreinander Platz zu schaffen und einander Raum zu geben, betont Distanzierung und hat dabei offengelegt, was viele marginalisierte Menschen seit Langem als Pandemie des Otherings kennen.

„Man muss ihnen ein ‚Wie geht’s?‘ oder ‚Halte durch‘ geben, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass ich für sie keine Bedrohung darstelle, weißt du? Denn wegen der Maske können sie mein halbes Gesicht nicht sehen. Weißt du, was ich meine?“ – mein Bruder.

Er erzählt mir von seiner Maske, die obligatorische Gesichtsbedeckung, die nur einen halben Millimeter dick ist aber das Einzige ist, was zwischen seiner Gesundheit und totalem Verlust steht. Wenn er sich mit dem Covid-19-Virus infizieren würde, würde er nicht nur seinen Atem, sondern auch seine Kraft und seinen Job verlieren – und damit dann auch seine Krankenversicherung und garantiert auch sein Visum. Vollkommener, totaler Verlust. Durch diesen halben Millimeter können große Machtgefälle sichtbar werden. 

Aber das Tragen dieser Mund-Nasen-Bedeckung, die das Leben dieses Schwarzen Mannes retten soll, hat auch einen enormen Nachteil: Niemand kann ihn lächeln sehen. Niemand kann sein strahlendes Lächeln bemerken, das die leidenschaftlichen Gesten begleitet, die seine Arme in der Luft zeichnen. Niemand kann das verschmitzte Grinsen sehen, mit dem er seine sarkastischen Kommentare abgibt. Niemand kann den Schmollmund erkennen, den er zieht, wenn er albern aussehen will. Oder wie er seinen Mund weit aufklafft, um Kleinkinder kurz stutzig zu machen — er will sie nicht verschlingen, sondern will durch seinen einfachen, aber wirksamen Humor ein Augenrollen hervorkitzeln. Niemand kann seine Wangen und seine Grübchen sehen, und auch nicht die süße Zahnlücke. Die Art, in der Menschen im öffentlichen Raum auf ihn — auf seine bloße Präsenz — reagieren, hat sich in den letzten sechs Monaten drastisch verändert. Es wird ihm jedes Mal, wenn jemand sich ihm bis auf einen Meter fünfzig nähert, ganz besonders bewusst. 

Es ist schon komisch, wie eine plötzliche Armbewegung beunruhigend wirken kann, wenn sie nicht von einem Lächeln begleitet wird. Oder wie die Frage „Wie geht es Ihnen?“ oder „Wie geht es Dir?“ irgendwie eine andere Bedeutungsdimension anzunehmen scheint, wenn man sie nicht auch auf den Lippen lesen kann. Mein sehr geselliger und lebhafter Bruder wird schroff daran erinnert, dass er ständig auf ein gesellschaftliches Konstrukt reduziert wird. Früher reichte ein Lächeln, damit einige ihn anders kategorisierten, etwa als „freundlich“, „unbedrohlich“, „sanftmütig“ oder „höflich“. Jetzt reduziert ihn dieser halbe Millimeter auf nichts anderes als seine Hautfarbe, Gender, und seine Körpergröße. 

Die Wölbung unserer Lippen und die Bewegung, mit der sie sich öffnen und die Zähne zeigen — ähnlich vielleicht dem Zähnefletschen unserer tierischen Vorfahren — sind seit einigen Jahrhunderten an und für sich eine Maske. Gerade wir Schwarzen und braunen Menschen, die seit Generationen in den tückischen Gefilden des Tokenismus zurechtkommen müssen, kennen die grässliche Last, Weißen gegenüber durch Lächeln und andere Gesten Ehrerbietung signalisieren zu müssen, nur zu gut. Und wir müssen in unserem Kampf um ein gutes Leben dieses zweischneidige Schwert weiterhin tragen. In The Souls of Black Folk (das er hier in der Hauptstadt Deutschlands zu schreiben begann) beschrieb W. E. B. Dubois den „Schleier“, der in unseren Welten schwebt. Dieser Schleier kennzeichnet unser doppeltes Bewusstsein und dient uns als schützende Hülle — schon lange vor unserm ersten Atemzug. Unser Kampf für Gleichberechtigung, Respekt und Reparationen wirkt sich nach wie vor schädlich auf unsere Lebensweise, Feiern und Existenz aus. Unsere wirklichen körperlichen Ausdrucksformen zu mindern wissen, indem wir Wut, Verachtung, unsere Sexualität und sogar unsere Körperbewegungen verschleiern: Das ist der Code-Switch, den es bereits für unsere Vorfahren zu beherrschen galt, um zu überleben oder bestenfalls toleriert zu werden.

Mein Bruder hält jetzt mehr Abstand als je zuvor in seinem Leben. Er neigt den Kopf nach links und zwinkert mit den Augen, wenn er jemandem in gebührendem Abstand zuwinkt. Er gibt sich Mühe, mit seiner Körpersprache zu signalisieren, dass er zugänglich ist und bewegt sich dabei so wenig wie möglich. Er sagt immer laut und freundlich „Hallo“, bevor er seinen Arm (mit nach vorne offener Handfläche) wieder baumeln lässt. 

Der Raum und der Abstand, den wir uns derzeit alle defensiv und im Namen von Hygiene, Angst und Unsicherheit einfordern, ist eine Erweiterung eines Mechanismus, den ich schon vor Jahrzehnten bemerkt habe. Ich habe es damals im Zug gespürt, als die deutschsprachige Frau aus Prag verlangte, dass meine Mutter und ich aus dem Abteil gewiesen und unsere Sitze desinfiziert würden. In der ständigen sozialen Züchtigung darüber, wo ich hingehöre, wo ich stehen, gehen, sitzen, radfahren, liegen, Sport treiben, picknicken oder in der Öffentlichkeit existieren darf. In der Tatsache, dass ich mich schon vor Jahren entschieden habe, als Erste die Straße zu überqueren und so anderen Menschen räumlich nicht nahe zu kommen.

Die Pandemie hat uns allen einen Grund gegeben, die persönliche Sphäre der*des jeweils anderen zu respektieren. Mit dieser Verschiebung des Overton-Fensters haben wir jedoch auch immense Verluste erlitten. Verglichen mit einem Faustcheck oder ungeschicktem Winken spricht ein Ellbogencheck Bände über das politische Denken einer Person. Die Zeit des Händeschüttelns ist vorbei. Doch wenn ich im Supermarkt zwei Schritte zur Seite gehe, wenn ich an anderen Kund*innen vorbeigehe, wird es nicht erwidert. Dies wirft die Frage auf: Ist in meinen Bemühungen, Platz für andere zu schaffen, das soziale Signal, das darin eingebettet ist, denn nicht ersichtlich? Welches das neue gesellschaftlichen Abkommen signalisiert, zu dem wir uns alle verpflichtet haben (zumindest im Allgemeinen)? Ich wage zu behaupten, dass dies offenbar nicht der Fall ist. Ich stelle immer wieder fest, dass ich als Einzige den empfohlenen Abstand einhalte. Fast immer bin ich es, die entgegenkommenden Personen auszuweichen muss. Jede Rempelei, jeder Ellbogenstoß, jede Tasche, die mich anklatscht, jede Schulter, die mich anprellt, tun mir weh, weil sie mir das Gefühl geben, unsichtbar zu sein. Ich vermute, dass es daran liegt, dass mein Körper, unsere Körper, einfach nicht als ehrerbietungswürdig betrachtet werden. Unserem Raum wird keine Ehrfurcht entgegengebracht. 

Die Art und Weise, wie marginalisierte Körper angegangen werden, ist das Gegenteil von sachte. Weder Masken, Quarantäne oder Bodenmarkierungen konnten die Pandemie der Ignoranz und Angst — oder genauer gesagt, der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus und der Frauen*feindlichkeit — eindämmen. Im Gegenteil: Es ist, als seien wir in einem morbiden venezianischen Karneval, wo der halbe Millimeter Textil der Masken und das Prinzip der Unschuldsvermutung ungezügelte und aggressive Verhaltensweisen entfesselt haben.

Wie können wir ihnen also deutlich machen, dass wir keine Bedrohung darstellen? Oder dass Stalking und Othering auch unter irgendeinem unheilvollen Vorwand nicht in Ordnung sind? Wir ziehen in unserer gelebten Erfahrung schon lange an diesem Schleier. Ironischerweise war es das Tragen der Maske durch diejenigen, die nicht mit dem einzigartigen Dilemma des doppelten Bewusstseins leben müssen, das den Schleier spürbar gemacht hat. Durch einen metaphorischen Millimeter dieser Art können große Machtgefälle sichtbar werden. 


Deutsche Übersetzung von Nine Yamamoto-Masson 

* Rhea Ramjohn ist Dichterin, Pädagogin und Podcasterin aus Trinidad und Tobago, via Boston und Berlin. Sie moderiert den Wissenschafts-Podcast Hormonal und ist leitende Produzentin von Tanti Table. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen Mundart, Dialekt und soziale Gerechtigkeit. Das kommt in ihrem Filmgedicht Live chile! am deutlichsten zum Vorschein und in ihrer Arbeit als Mitbegründerin von Black Brown Berlin