„Allongé“, Julian Weber ©Julian Weber

Geformte Körper / Verkörperte Formen

TANZPLATTFORM 2022 >>> Julian Webers Performance „Allongé“, die am 31. Oktober 2020 im Rahmen des Festivals OPEN SPACES der Tanzfabrik uraufgeführt wurde, nimmt das skulpturale Werk von Constantin Brâncuși als Ausgangspunkt und die Bewegungssprache des Poledance und des Balletts als Material.

Beim Lesen des Programmtexts für „Allongé“ fragte ich mich, wo sich Stangentanz, Ballett und das bildhauerische Werk von Brâncuși in einem Venn-Diagramm überschneiden würden. Es stellte sich heraus, dass die Antwort, wie das Diagramm selbst zeigt, in der Geometrie liegen könnte. Wenn sich das Publikum in zwei Hälften teilt, um auf den gegenüberliegenden Seiten des Raumes Platz zu nehmen und Webers Bühnenbild aus vertikalen Stangen und kantigen Objekten zwischen uns steht, dehnt sich der Raum nach oben und nach außen aus und schafft bereits einen Raum von skulpturaler Mehrdimensionalität. Weber, die Balletttänzerin Shade Théret, der Poledancer György Jellinek, die Musikerin Evelyn Saylor und die Lichtdesignerin Annegret Schalke sitzen auf den anderen beiden Seiten vor großen gedruckten Wandbildern.

Théret beginnt, in klobigen Jazzschuhen, Cargoshorts und einem lindgrünen Trikot, diagonale Linien durch den Raum zu schneiden und Kombinationen aus dem klassischen Ballettvokabular auszuführen. Jellinek folgt ihr auf ihrem Weg über den Boden, trägt enge Slips in demselben Lindgrün und schwindelerregend hohe Plateau-Stilettos. Während sich Thérets Beine zu hohen Extensions entwickeln, strecken sich Jellineks Beine träge in einen Seitwärtsspagat. Sie springt kerzengerade und er klettert die Stange hinauf. Diese Parallelen zwischen den geometrischen Dimensionen der beiden Stile scheinen ein immer wiederkehrendes Thema zu sein – an einer Stelle dreht Théret Fouetté-Pirouetten, während Jellinek, kopfüber mit den Beinen um die Stange gewickelt, sich hoch über ihr dreht. Sie fällt zu Boden und er lässt sich gleichzeitig die Stange hinunterfallen. Es ist ein Moment, der die Grenzen einer direkten Spiegelung der Art und Weise aufzeigt, wie die beiden Stile den Körper in den Raum projizieren.

Deutlich interessanter finde ich Webers Entscheidung, Poledance und Ballett im selben Kontext zu präsentieren. Beide Stile sind historisch gesehen stark geschlechtsspezifisch geprägt und finden sich auf den entgegengesetzten Seiten unseres gesellschaftlichen Spektrums des kollektiven kulturellen Madonna-Huren-Komplexes wieder. Auch in Anbetracht ihrer jeweiligen Bühnen, dem Opernhaus und dem Stripclub, sind sie auf der Skala von „hoher/niedriger Kunst“ ziemlich gegensätzlich. Doch Julian Webers Performance löst beide Stile aus diesen Kontexten heraus und reduziert sie auf ihre formale Essenz. Théret nähert sich dem Ballett eher wie einer Kampfsportart an, führt jede Bewegung kraftvoll und mit steinerner Miene aus und hält mitten in der Manege an, um in die Luft zu schlagen oder um den Shimmy zu tanzen. Wenn sich Jellinek an der Stange bewegt, ist das meist frei von performativer Sexualität – er bleibt ruhig, kontrolliert, fast klinisch in seinen Bewegungen. Wenn jedoch nach einer besonders anstrengenden Sequenz der Ton ausfällt, so dass wir Théret keuchen hören, werde ich an die Illusion weiblicher Ätherizität erinnert, die das klassische Ballett zu bewahren versucht. Einen männlich gelesenen Körper in Unterwäsche und zehn Zoll hohen Absätzen zu sehen, der sich um eine Stange dreht, wirkt außerdem immer noch irgendwie subversiv. Die Technik als Rohmaterial zu verwenden, um etwas Neues zu schaffen, und gleichzeitig zuzulassen, dass ihre Konnotationen im Hintergrund weiterklingen, fühlt sich wie ein für diese Arbeit sehr treffender skulpturaler Ansatz für Bewegung an.

Während die Körper der Tänzer*innen als geometrische Objekte untersucht werden, werden die Objekte auf der Bühne zu tanzenden Körpern; die geschliffenen Sanduhrfiguren drehen sich um ihre eigene Achse, werden von jemandem in die Arme genommen und rollen oder kippen über den Boden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Prozess der Personifizierung des Objekts und der Objektifizierung der Person den Effekt hat, beide zu neutralisieren – sie treffen sich in einer kompromittierenden Mitte, weder Körper noch Objekt können vollständig realisiert werden. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist, wenn Weber selbst kurz zu tanzen beginnt – allein die Kurve seines Rückens haucht der Form so viel Leben ein wie jede der Skulpturen von Brâncuși. Auch Evelyn Saylors Musik zeigt das dynamische Potenzial der Form, indem sie Klänge zerschneidet, transformiert und neu zusammensetzt und verschiedene Genres zu einem kohärenten Ganzen formt. An einer Stelle singt sie eine eindringliche Melodie, wobei sie jede Phrase digital loopt, bis sie mit sich selbst harmoniert, bevor sich der Sound zu treibendem Techno verzerrt, ohne die ursprüngliche Wirkung der menschlichen Stimme zu untergraben.

Ohne Frage, Webers „Allongé“ mutet ehrgeizig und intelligent an und da ich mit Brâncușis Arbeit oder Ansatz nicht besonders vertraut bin, gehen vermutlich eine Reihe an Anspielungen und Referenzen an mir vorbei. (An mehreren Stellen tragen Théret und Jellinek beispielsweise ein zweites Gesicht am Hinterkopf – das Beste, was mir dazu einfällt, ist, dass es sich dabei um eine Umkehrung eines der berühmtesten Werke von Brâncuși, „Der Kuss“, handeln könnte.) Doch die formalistische Abstraktion lässt mich mit Fragen zurück. Was kann uns in diesem Zwischenraum, in dem sich Bildhauerei und Tanz kreuzen, Kunsthandwerk, das von der physischen Unbeweglichkeit bzw. Mobilität seines Materials inspiriert ist, wirklich bewegen?

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente


„Allongé“ von Julian Weber wird erneut am 18., 19. & 20. März in den Uferstudios Berlin, im Rahmen der Tanzplattform Deutschland 2022 zu sehen sein.