Grandma ©Inky Lee

Nicht schreiben

Nach einer Veranstaltung über Tanz und Schreiben denkt Inky Lee über ihre persönliche Beziehung zu Tanz und Schreiben nach. Auch nach mehreren vehementen Versuchen gelingt es ihr nicht, sich wirklich zu artikulieren.

Dies ist schon der vierte Text, den sie zu diesem Thema schreibt. Die drei Texte davor führten zu nichts. Sie ahnt schon, dass auch dieser vierte Versuch nicht unbedingt ein „Erfolg“ werden wird. Dieser Begriff ist für sie ohnehin sinnlos, weil ihre Großmutter ihr bei jeder Gelegenheit ihre Definition von „Erfolg“ einzutrichtern versucht, und zwar: Einen Ehemann finden, der für sie ein Haus kauft („Er muss nicht einmal etwas Besonderes sein. Es reicht schon, wenn er einfach nur passabel ist“, hat ihre Großmutter ihr einmal erklärt), heiraten und Kinder kriegen. 

Bevor sie sich an den Rechner setzte und diese verfluchten Worte zu tippen begann, kroch sie am helllichten Tag ins Bett, voller Verwirrung darüber, sich endlich damit abgefunden zu haben, dass die ernsthafte Leidenschaft, mit der sie den dritten Text zu schreiben begonnen hatte, schon wieder vergebens gewesen war. Sie fragte sich, ob sie aufgeben sollte. Vielleicht hat das Loslassen etwas Anmutiges. 

Sie hat viel über Anmut nachgedacht.

Beim Durchlesen ihres dritten Textes Looking for Grace („Es wäre einfacher gewesen, Grace zu finden, wenn das der Name einer schönen Frau gewesen wäre…“) war ihr bewusst geworden, dass sie trotz ihrer aufrichtigen Motivation, über Tanz und Schreiben zu schreiben, in diesem Text nichts Neues oder Interessantes gesagt hatte. Sie fühlte die Wärme des Elektroherdes, auf dem sie gerade Gemüse erhitzt hatte. „Sogar der Herd ist besser als ich“, dachte sie, „wenigstens kann man damit Essen kochen und Menschen ernähren! Im Gegensatz dazu hat die Flamme in mir gar keinen praktischen Nutzen!“

Sie dachte an Anh Vos Essay How to not write like a white man, besonders an den letzten Punkt darin: „Nicht schreiben. […] Mit dieser Ironie und Heuchelei muss ich mich auseinandersetzen und meinen eigenen Assimilationsakt hinterfragen, mein egoistisches Bedürfnis, ernst genommen zu werden, meinen kolonialen Wunsch, zum Rang der weißen Männer zu gehören.“ Als sie sich fast damit abgefunden hatte, das Handtuch werfen zu müssen, drängten sich alle logistischen Fragen auf. Würde sie den*die Lektor*in trotzdem für die Arbeit an ihrem zweiten Text bezahlen? Würde sie sich selbst für die endlosen Stunden quälenden Schreibens ein Honorar zahlen? Wenn sie diese Leute für die fruchtlose Arbeit bezahlen würde, wie würde sie das den Geldgebern dieses Projekts gegenüber rechtfertigen? Würde das Scheitern als legitime Arbeit anerkannt werden, die vergütet werden kann? Als sie schließlich beschloss, einen letzten Versuch zu unternehmen, entschied sie sich in der dritten Person zu schreiben. Weil sie sich schämte. 

Die Tage vor diesem vierten Anlauf – auf ihrem dunklen Küchenboden sitzend – waren voller schlafloser Nächte und manischer Stunden: Brainstorming, Notizen machen, schreiben, umschreiben… Emotionale Stürme tobten in ihr. Als ihr die Vermutung kam, dass diese heftigen Gefühlswogen von ihrem jungen Alter herrühren könnten, rief sie ihre 87-jährige Großmutter an. Nach dem Telefonat wurde ihr klar, dass sie ihre Großmutter gerade deswegen so sehr liebte, weil sie wunderbar gefühlvoll ist und jedes ihrer Gefühle in voller, purer Intensität ausdrückt. Am Ende des Anrufs waren beide in Tränen aufgelöst.

Dann machte sie sich daran, Zitate von Gelehrten und Autor*innen zusammenzusuchen, um ihre Argumente fundierter erscheinen zu lassen – mehr als bloß eine Art Gefühlsanfall, sondern auch ein logisch überzeugender „Diskurs“. Letztendlich gab sie diese Bemühungen jedoch auch auf, weil die Zitatensammlung sie anstarrte wie kaltes Gemüse, das unmöglich zu einem Gericht werden könnte, das man gerne essen würde, weil es kein Messer zum Kleinschneiden und kein Feuer zum Kochen gab. Sie wandte sich von den Zitaten ab und dachte an die erlebten Erfahrungen des Körpers. Sie erinnerte sich an ihre Tanzlehrerin, die mitten in der Yoga-Pose der Taube in Fluchen und Weinen ausbrach; an eine Freundin, die während eines Klein-Technik-Kurses plötzlich zusammenbrach; oder wie sie selbst einmal unerwartet in heftiges Schluchzen ausbrach, als ein*e Tieh Ta Tuina-Praktiker*in ihr linkes Schlüsselbein bearbeitete. 

Der Körper ist Gefühl ist Wissen ist Tanz ist Schreiben.

Als klar wurde, dass auch ihr zweiter Text, Believing in Miracles („Es war fast wie ein Wunder, auf einmal das Gesicht meiner Großmutter auf meinem Smartphone-Screen zu sehen!“), nicht veröffentlicht werden würde, war sie dankbar. Vielleicht war ihr zweiter Text doch zu kindisch und daher keinen weiteren Versuch wert. Und vielleicht war es eine Chance, sich in Anmut zu üben. 

Sie hat sich viele Gedanken über die Beziehung zwischen Emotionen und Zeit gemacht. 

Sie hat immer sehr starke Gefühle; das akzeptiert sie. Für sie gehört es einfach zum Leben in einem Körper, zum Menschsein. Diese ganze Saga, einen Text über Tanz und Schreiben schreiben zu wollen, war von der starken emotionalen Reaktion auf die Veranstaltung, die sie besucht hatte, ausgelöst worden. 

Im Laufe der Zeit stellte sie jedoch fest, dass sich ihre negativen Gefühle rund um die Veranstaltung nach und nach verflüchtigt hatten. Es wurde ihr bewusst, dass die vergehende Zeit deutlich werden lässt, welche Gefühle wirklich dauerhaft nachhallen und welche nicht – und dass für sie Liebe länger und tiefer im Körper verweilt als Hass. „Deshalb gibt es viel mehr Liebeslieder und Liebesbriefe als Hasslieder und Hassbriefe“, dachte sie. Es könnte vielleicht eine Art Anmut sein, überlegte sie, immer erst etwas Zeit vergehen zu lassen, bevor man handelt: sich genug Zeit nehmen, um zwischen wichtigen und unwichtigen Emotionen zu unterscheiden. 

Also wartete sie. Sie beobachtete sorgfältig, was sich wie in ihr im Laufe der Zeit bewegte. 

Sie kam zu dem Schluss, dass, obwohl all die negativen Gefühle rund um die Veranstaltung allmählich verflogen waren, ihre Leidenschaft über Tanz und Schreiben zu schreiben, trotz ihrer wiederholten Misserfolge, nie nachgelassen hatte. Im Gegenteil, sie wurde immer stärker. 

„Das muss Liebe sein“, dachte sie.


Deutsche Übersetzung von Nine Yamamoto-Masson