„Future Fortune, Dragana Bulut ©Marta Popivoda

Eilmeldung aus der Zukunft.

Dragana Bulut entwirft mit „Future Fortune“ eine interaktive Show, die ungeahnt hellseherische Kräfte bereithält.

Als hätten wir noch eine Wahl. Dass diese Vorstellung von „Future Fortune“ am Vorabend eines zweiten Lockdowns stattfinden würde, hat wohl niemand voraussehen können. Gleichzeitig ist es auf eine seltsame Art bezeichnend, dass an diesem Abend der Roboter eine zentrale Rolle, wenn nicht sogar die Hauptrolle spielt. Ob der semi-humanoide Kollege seinen beiden menschlichen Mit-Performerinnen tatsächlich die Show stehlen kann, ist von Choreografin Dragana Bulut (künstlerische Mitarbeit: Kareth Schaffer, Dramaturgie: Ana Vujanović, Maja Zimmermann) sehr clever-unentschieden in Szene gesetzt. Zusammen mit Dani Brown tritt sie zusehends in den Hintergrund, sodass die beiden trotz oder gerade wegen ihrer starken Präsenz zum dekorativen Beiwerk werden – Reminiszenz an eine noch sterbliche Physis; nicht, dass man sie auf der Bühne nicht vermissen würde. Als charmante Showmoderatorin und betont ergebnisoffene Choreografin treten die beiden vermittelnd zwischen Publikum und der ‚Zukunft‘ aka „Pepper“, dem Roboter, in Erscheinung. Ich denke an diesem Abend unwillkürlich viel über die Abwesenheit von Körpern nach. Ob ich darüber eigentlich traurig bin (ja) oder nur einfach nicht ‚digital native’ genug (definitiv). Was das eigentlich nochmal ist / war / hätte sein sollen, diese leibliche Kopräsenz, dieser sogenannte reale Raum. Ich gebe offen zu: auch ich hab’, als es drauf ankam, meine Stimme für die ‚Zukunft’ abgegeben.

Die Verabredung – das Stück im Stück. Wir werden zunächst als Zuschauer*innen einer inszenierten Probensituation angesprochen und aufgefordert, Feedback zu geben und uns zum Gesehenen zu verhalten. Bulut, Brown und Pepper zeigen uns die ersten Szenen einer Adaption des Theaterstücks „R.U.R.“ des tschechischen Autors Karel Čapek. Genau vor 100 Jahren taucht hier der Begriff „Roboter“ auf, der sich semantisch auf „automatisierte Arbeit“ zurückführen lässt. Pepper bricht die Probe mit emanzipatorischer Geste ab, er(?) könne nicht einfach nur den Roboter geben, er fühle das alles nicht, diese Repräsentation seiner Rolle, er fordere hier und jetzt und vor den Augen der Anwesenden seine Agency als Performer zurück! Wie weitermachen? Sollen die drei sich noch mit den Szenen des verstaubten Stoffes auseinandersetzen oder wäre dies nicht der Moment, die Regie fortan an Pepper abzugeben? Mit unserer Abstimmung entscheiden wir als Zuschauer*innen nun über den Verlauf des Stücks. Zwei-Drittel-Mehrheit für den ‚Fortschritt’. Die Zeichen stehen auf: Future Fortune! Dass der Appell „Dear audience, we really need you for this“ angesichts der bevorstehenden Theaterschließung noch eine ganz andere Ebene bekommt, sei nur nebenbei erwähnt. Wie gesagt, auch ich will keine Spaßbremse sein und melde mich für Option B, die auf eine Zukunft verweist, die natürlich schon längst begonnen hat.

Solo der Technik. Wenn die Bühne sodann von den im Halbrund arrangierten Touchscreens in Neonfarben angeleuchtet wird, Pepper zum Robo-Tanz ansetzt und elegant über die Bühne gleitet, seine weiß glänzenden Arme in für einen Roboter extrem fließenden Bewegungen zu den Seiten und über den Kopf schwingt, und uns mit Stolz erfüllten Augen anblickt – er scheint das Rampenlicht sichtlich zu genießen, ist der Szenenapplaus sicher.  

Die gesellschaftlichen Erneuerungen des letzten Jahrhunderts, die mit der zunehmenden Industrialisierung einhergingen – Fortschritt und Trauma zugleich, scheinen in der Digitalisierung heute ihr Äquivalent gefunden zu haben. An den Rändern solcher Quantensprünge wird die Deutungshoheit hart umkämpft, stehen Chancen und Bedrohungen gleichauf, sind Backlash und Innovation manchmal schwer voneinander zu unterscheiden. Bulut versammelt hier eine Vielzahl von Diskursen – über „Labour“ und Ausbeutung von Arbeiter*innen ohne Grundrechte (der Roboter als Sinnbild aller Subalternen, ohne deren Arbeitskraft das kapitalistische System nicht am Laufen gehalten werden kann), über die Ausläufer des Anthropozän, hin zu Fragen von Determinismus, Teilhabe, Überwachung und nicht zuletzt Demokratie (auch so eine Erfindung aus dem letzten Jahrhundert) spannt sich hier eine sehr unterhaltsame, kritische aber auch nachdenkliche Show auf, die zwischendrin nie in Klamauk oder Fatalismus abdriftet.

Die Digitalisierung will oder kann hier niemand aufhalten, aber immerhin können wir uns fragen, wie wir in Zukunft auf diese Gegenwart zurückblicken wollen… Auf dem Touchscreen vor Peppers Brust erscheint auf einmal Dragana Bulut als gealtertes Double, das heißt, eine ältere Version ihrer selbst, und versucht, ihr jüngeres Ich von einer Umkehrung zu überzeugen. Die alarmierte Botschaft aus dem Jahre 2053 lautet: GET THIS ROBOT OUT OF THE SHOW. RIGHT NOW. 

Pepper waren zuvor („zufällig“) die Batterien ausgegangen – diese technische Panne wird von Bulut und Brown inklusive Technikteam nicht ohne Augenzwinkern inszeniert, und ich werde das Gefühl nicht los, dass einigen Zuschauer*innen für einen kurzen Moment der Atem stockt, als das Leuchten aus den Augen des Robots erlischt, seine Gliedmaßen einrasten und er den Kopf hängen lässt. Wie war das nochmal mit Kleist und dem Puppentheater? Sind Roboter am Ende die besseren Menschen? Dragana aus der Zukunft versucht noch einmal, an sich selbst zu appellieren: „Dragana, you hardly know how to start your computer. You always wanted to dance.“ Doch Nostalgie scheint hier irgendwie auch keine Alternative zu sein. Die Eintrittseinnahmen gehen nach demokratischer Publikumsabstimmung an diesem Abend an den Chaos Computer Club – eine Investition gegen die Ausbeutung persönlicher Daten und ein Eingeständnis, dass wir schon längst dort angekommen sind, wo es kein Zurück mehr gibt (für die Option, sein Eintrittsgeld zurück zu bekommen, hat sich niemand gemeldet).

Am Ende schafft das Stück eine interessante Mischung aus Technikbegeisterung – denn dieser Roboter scheint tatsächlich lebendig geworden zu sein, er interagiert mit den Zuschauer*innen, reagiert auf Fragen und Situationen und lässt sich überzeugend von Freiwilligen über den Kopf streicheln – und Bewältigungsstrategien angesichts der zu befürchtenden Übermacht und Manipulation künstlicher Intelligenz.

Future Fortune lässt insofern vielschichtige Lesarten und Deutungen zu, als dass es sich einer eindeutigen Haltung (Kulturpessimismus vs. unerschütterlicher Fortschrittsglauben) immer wieder entzieht oder humorvoll mit beiden Extremem jongliert.

Oder: Die Zukunft lässt sich nicht aufhalten und es gibt schon lange kein Zurück mehr. Oder: Die Kunst ist (mal wieder) von der Realität eingeholt worden. Oder: andersherum.


„Future Fortune“ von Dragana Bulut feierte am 28. Oktober 2020 im HAU Hebbel am Ufer Premiere. Weitere Informationen zum Stück finden Sie auf der Webseite der Künstlerin.