„Tyger von otherspur“, Sajan Mani ©Kathy-Ann Tan

Sajan Mani – Tyger von otherspur

Rezension verfasst von Nine Yamamoto-Masson.*

Die Performance fand im Rahmen des Festivals Radical Mutation: On the Ruins of Rising Suns statt, kuratiert von Nathalie Anguezomo Mba Bikoro, Saskia Köbschall, Tmnit Zere, in Zusammenarbeit mit Wearebornfree! Empowerment Radio, 23.9.–4.10.2020, HAU1+2+4.

Sajan Mani bewegt sich langsam durch den White Cube. Der Boden und die Wände des Raumes (das einstige HAU2-Café, das derzeit im Covid-Limbo schwebt) sind mit weißem Papier bedeckt, auf das er mit Kohle zeichnet bzw. schreibt. Im Verlauf der zwei Tage seiner Durational Performance Tyger von otherspur bedeckt er so fast die gesamte Fläche des Raumes mit Schriftzeichnungen. Dabei verwandeln seine Bewegungen und ihre Kohlespuren diesen Raum im Schwebezustand in einen ganz neuen Raum: eine Zeichnung, innerhalb derer man sich bewegt, ein Raum, der gleichzeitig auch Text ist. Eine Gegenmetapher, die in diesem geografischen und kulturellen Kontext selbstbewusst opak ist. 

Die Zuschauer*innen ziehen ihre Schuhe aus und treten vorsichtig in den Raum; manchmal zertreten sie abgebrochene kleine Kohlestückchen unter ihren Füßen. Mani ist barfuß, trägt ein weißes (durch Kohle verschmutzes) Hemd, eine schwarze Hose, grüne Bänder um die Waden gewickelt, um den Hals ein langes rotes Tuch. Um seinen Kopf ist ein roter und cremefarbener Stoff gewickelt. Ein großer goldfarbener Ohrreifen hängt über seinem Ohr, am Stoff seiner Kopfbedeckung. Seine Bewegungen wirken improvisiert und natürlich, aber methodisch. Sein fokussierter Blick erfasst den Raum, seine Oberflächen, seinen negativen Raum. Wenn er im Liegen große, verschlungene Linien auf den Boden zeichnet, wird die Kohle von seinem Körper verschmiert. Später erzählt er mir, dass seine Bewegungen auch durch das Imaginieren nichtmenschlicher Kosmologien inspiriert sind, wie der des Tigers und durch Theyyam, den jahrtausendealten heiligen rituellen Tanz seines Heimatstaates Kerala.

Foto: Paris Helene Furst

An einer der Wände spielt eine dreikanalige Videoinstallation einen 36-minütigen Schwarz-Weiß-Videoloop mit Szenen aus den drei Filmfassungen des zweiteiligen deutschen Kultfilms Das Indische Grabmal / Der Tiger von Eschnapur (1921, 1938, 1959). Bei der letzten Fassung führte Fritz Lang Regie. Alle drei Versionen basieren auf dem 1919 erschienenen Roman seiner Ex-Frau Thea von Harbou. Sie hatte sich 1933 von Lang scheiden lassen, heiratete einen indischen Autoren, trat 1940 der NSDAP bei und produzierte Filme für das Dritte Reich. Auf den drei Flatscreens sind Szenen von schillernder Exotik zu sehen, die Begegnung mit dem Geheimnisvollen Asien™, opulente theatralische Dekors aus Pappmaché, schlängelnde Konfigurationen von erotisch aufgeladenen Körpern, verstörende Blicke und überzogene Gesichtsausdrücke von angeblichen Indern. Ein TV-Werbeklassiker der 1950er Jahre des deutschen Schokoladenherstellers Sarotti ist zwischengeschnitten: Das berühmte Maskottchen, eine rassistische Karikatur einer Schwarzen Person mit übertriebenen Gesichtszügen und Farbgebung, die immer begeistert irgendjemandem etwas auf einem Tablett servieren will. Die Figur trägt einen „Turban“ auf dem Haupt und auch im Rest ihres „exotischen“ Oufits sind Klischeevorstellungen des „Orients“, des Ostens und Afrikas wild zusammengeworfen. Die ehemalige Schokoladenfabrik Sarotti liegt nur einige Straßen weit entfernt vom HAU1. Heute sind dort das Hotel Sarotti-Höfe und das Retro-Café Sarotti, die beide stolz an ihren Wänden ihr rassistisches Maskottchen zeigen.

Die Handlung der Filme ist sehr verworren, lässt sich aber wie folgt zusammenfassen: Tiger und böse braune Männer wollen sich die hilflose, spärlich bekleidete (hell-)braune Frau schnappen, aber der kluge, mutige deutsche Held, ein Ingenieur, rettet sie. Als Belohnung darf er sie auch sexuell besitzen. Alle Hauptdarsteller*innen in allen Filmen sind weiß. Diejenigen, die indische Charaktere spielen, sind braun angemalt und bieten eine 100%ig fiktive Karikatur von Inder*innen dar. Die Tänze im Film, so Mani, sind nicht indisch, sondern schlecht nachgemachte balinesische Tänze. Im Pressetext zu Manis Aufführung schreibt Anthony George Koothanady: „Ein dressierter, in der Fantasie des weißen Mannes gefangener Tiger ist der einzige tatsächliche Inder der Filme“.

Wer und was ist authentisch Indisch? Diese Frage ist natürlich absurd. Aber sie wurde oft von Westlern als Instrument der Disziplinierung und Kontrolle angewandt.

Foto: Paris Helene Furst

Mani stammt aus einer Familie von Gummizapfer*innen in einem abgelegenen Dorf im nördlichen Teil von Kerala, Südindien, und bezeichnet sich selbst als einen intersektionellen, antinationalen Künstler. In seinen subtilen und radikalen Performances untersucht Sajan Mani, wie der als anders markierte Körper gewaltsam zu einen Lokus gemacht wird, an dem sich Dominanz mit ihren eigenen Unsicherheiten und Instabilitäten auseinandersetzt. Seit seiner Geburt, sagt Mani, experimentiert er mit dem postkolonialen schwarzen Dalit-Körper im öffentlichen Raum. „Durch die Auseinandersetzung mit meinem eigenen Körper als Kreuzstelle von Geschichte und Gegenwart kam ich dazu, mich auf [meinen] Körper als gesellschaftspolitische Metapher zu konzentrieren“, schreibt er in seinem Künstlerstatement. 

In seiner Arbeit thematisiert er nicht nur Machtgefälle und Unterdrückung aufgrund von Race, sondern auch aufgrund von Hautton (Colorism) und Kaste. Letztere ist ein Macht- und Unterdrückungsmechanismus, der in liberalen intersektionalen Diskussionen im Westen und in der Kunst fast nie thematisiert wird – so wird die Intensität und Komplexität kastenbasierter Unterdrückung, die die Dalit-Community (auch in der Diaspora) erfährt, zusätzlich unsichtbar gemacht, wie beispielsweise die jüngsten Fälle grauenvoller Gewalttaten gegen Dalit-Frauen. 

„Wer über den Orient schreibt, muss ihm gegenüber Stellung beziehen […] um den Leser zu erreichen und sich des Orients so zu bemächtigen, dass er letzten Endes für ihn oder in seinem Namen sprechen kann“, schreibt Edward Said in Orientalismus, in dem er die Gewalt orientalistischer Haltungen und Repräsentationsmodi offenlegt. Die Ideologie des Weißseins reduziert zunächst die Körper und Kulturen der „Anderen“ zu flachen Projektionsflächen für weiße Phantasien und ernennt sich dann zum einzigen legitimen Experten über dieses „Andere“, auch darüber, was „authentisch“ ist und was nicht, oder was „rein“ genug ist oder nicht. 

„Der Orient und der Islam [nehmen] eine Art außerrealen, phänomenologisch entrückten Status ein, auf den allein westliche Experten Zugriff haben. Vom Beginn der westlichen Spekulationen über den Orient an blieb diesem eines verwehrt: sich selbst darzustellen. Alle Zeugnisse mussten, um glaubhaft zu sein, erst die Prüfung seitens des Orientalisten durchlaufen.“

Edward W. Said, Orientalismus (1978)

Vor zwei Jahren erzählte Mani mir und anderen gemeinsamen Freund*innen, wie eine Gruppe von Deutschen ihn einmal fragte: „Bist du wirklich Inder? Die Inder, die ich im Fernsehen gesehen habe, hatten aber hellere Haut.“ Das erinnerte mich an einen ehemaligen Chef von mir, ein reicher weißer deutscher Filmemacher, der einmal, als er wieder über seine häufigen Urlaubsreisen und Fotosafaris in Indien erzählte, rief: „In meiner Seele bin ich in Wirklichkeit Inder!“

Fotos: Paris Helene Furst

Die unkontrollierte Begegnung mit dem Anderen ist für die Ideologie des Weißseins zutiefst verstörend, weil das Andere sich in vielerlei Hinsicht den traditionellen europäischen Wissensbeständen und Verstehensmodi entzieht, und diese so als begrenzt bloßstellt. Der Orient und seine Menschen faszinieren und beunruhigen gleichermaßen; aber aufgrund der „Unlesbarkeit“ von Körpern, Verhaltensweisen, Kultur, Schriften, Sprache, kulturellen Signifikanten, Philosophien muss dies im Zaum gehalten werden, was die Parameter des Orientalismus leisten.

In diesen Fantasiegefilden, die die Ideologie des Weißseins durch die darunterliegende Unsicherheit im Prozess der Selbstfindung eröffnet, reduziert der weiße Blick das Andere, die Anderen (sei es „das Indische“, „der Orient“, „Asien“, „Afrika“, „Indigeneität“, …) und ganze Kontinente auf groteske oder hypersexualisierte Charaktere, auf einen exotischen Hintergrund für weißes Heldentum, auf eine Reihe von Requisiten, auf ein erzählerisches Stilmittel, als Versuch der Identitätsstiftung. Die Körper der Anderen werden zur Projektionsfläche für Ängste projiziert und zum Schauplatz für erzählerische Katharsis.

In Ein Bild von Afrika (1975), seiner bahnbrechenden Kritik an Joseph Conrads Herz der Finsternis, prangert Chinua Achebe die „absurde und perverse Arroganz“ an, Afrika auf einen bloßen Schauplatz und Hintergrund zu reduzieren, wobei Afrikaner*innen keine Menschlichkeit zugesprochen wird. Conrad zeichnet „Afrika als metaphysisches Schlachtfeld ohne jede erkennbare Menschlichkeit, auf das sich der wandernde Europäer auf eigene Gefahr begibt“. Durch kulturelle Texte und Darstellungen in den Medien hat der Westen Afrika und das komplexe Universum des Schwarzseins als sein diametral entgegengesetzt Anderes konstruiert, und im gleichen Zug die weiteren rassialisiert-geographisch Anderen als Grenzerfahrung und daher bedrohlich aufgestellt.

Der weiße Blick reduziert den*die Andere*n auf einen animalischen Körper – entweder wild und gefährlich oder Nutz- bzw. Haustier, dessen Innenleben bestenfalls undurchschaubar ist oder dem dieses gar ganz abgesprochen wird. Die Funktion des Anderen ist es demnach, ein Gegenteil zu verkörpern, im Gegensatz zu dem sich die Ideologie des Weißseins weiße Menschen und Kultur als stabile, kohäsive Gruppe, Identität und Kultur kontruieren will. Da Deutschland als Staat erst seit 1871 existiert, wird das Deutschtum in regelmäßigen Abständen von Identitätskrisen heimgesucht. Als wir einige Tage später über seine Performance sprachen, wies Mani darauf hin, dass diese drei Filme (1921, 1938, 1959) in drei verschiedenen Perioden der Filmgeschichte und der deutschen Geschichte produziert wurden: als Schwarz-Weiß-Stummfilm im chaotischsten Jahr der Hyperinflation in der Weimarer Republik und inmitten der Blütezeit des deutschen Expressionismus; als Schwarz-Weiß-Tonfilm in Hitlers Drittem Reich im Jahr der Novemberpogrome (u.a. Kristallnacht); als Technicolor-Tonfilm zur Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg, zwei Jahre vor dem Mauerbau. Die ersten beiden Filme wurden produziert, als Indien noch unter aktiver britischer Kolonialherrschaft litt.

Foto: Paris Helene Furst

Am Ende der Performance, als er fast alle weißen Flächen des Raumes mit seinen Kohlemustern gefüllt hat, betrachtet der Künstler einige Minuten lang den Raum und lässt seinen Körper dann langsam zu Boden sinken. Er legt sich auf den Bauch, legt den Kopf auf den Boden und kriecht langsam rückwärts aus dem Raum. Dabei rutscht ihm der Pseudo-Turban vom Kopf und bleibt auf dem Boden liegen: ein leerer rätselhafter Signifikant.1 Später erzählt er mir, dass sein Kostüm Elemente des sehr realitätsfernen Kostüms des indischen Prinzen der Eschnapur-Filme aufgreift. Er legt es ab und bewegt sich rückwärts aus dem Raum heraus.

Manis starke Performance widersetzt souverän dem deutschen kolonialen Begehren, das Indische zu kontrollieren. Durch Gegenmontage entlarvt er geschickt die kolonialistischen Unterdrückungsmechanismen, die in der durch Kultur vermittelten Bedeutungsproduktion im Spiel sind. Ganz absichtlich bemächtigt er sich dem, was die Ideologie des Weißseins so tief in ihrem Wesen beunruhigt: die Unentzifferbarkeit des kulturell Anderen, des*der rassialisierten Anderen, die sich durch westliche Rationalität, die sich an ihnen abarbeitet, nicht be-greifen und durchdringen lassen. Der Künstler bemächtigt sich dieser Opazität als einen fluiden Raum des widerständigen Selbstausdrucks: Die repetitiven Kohle-Schriftzeichnungen an den Wänden und auf dem Boden, so verriet es mir Mani, sind das Wort „LÜGE“, unzählige Male, in seiner Muttersprache Malayalam.

* Rezension verfasst von Nine Yamamoto-Masson. Nine ist eine französisch-japanische Künstlerin, Forscherin, Akademikerin, Autorin, Community Organiser, Redakteurin und Übersetzerin. In ihrer akademischen Forschung sowie künstlerischen und aktivistischen Praxis analysiert sie gegenderte Nekropolitiken der (Neo-)Kolonialität im Hinblick auf die Folgen des europäischen und japanischen Kolonialismus, sowie deren gegenwärtige Auswirkungen als Machtkonfigurationen und Wissenregimes, die gewaltvoll Körper, Leben und zahllose Zukünfte unterdrücken. Sie untersucht die Organisationsformen von vernetztem Widerstand, u.a. wie widerständiges Erinnern, das hegemoniale dominante Narrative in Frage stellt, wirkt. Dabei konzentriert sie sich auf die Rolle der Kunst sowie auf inter-diasporische, internationalistische und intergenerationelle Solidaritäten. Sie ist Doktorandin an der Universität Amsterdam. 2018 und 2019 war sie als Gastforscherin und -künstlerin an der Hiroshima City University. 2020 war sie in New York City, wo sie künstlerische und akademische Forschung und Dokumentation durchführte. 
nineyamamotomasson.com

  1. Das Konzept des “enigmatic signifier”, vgl. Homay King: Lost in Translation: Orientalism, Cinema, and the Enigmatic Signifier (2010) und Jean Laplanche (1999)