„The Fraternity“, Emmilou Rößling ©Daiva Tubutyte

Emotionale Teilhabe

Emmilou Rößlings „The Fraternity“, das im Rahmen von OPEN SPACES – How to get in Touch with… vom 22. bis 24. Oktober 2020 in der Tanzfabrik Berlin gezeigt wird, wirkt auf den ersten Blick wie eine Recherche zum Thema weibliches Zusammensein. Subtiler steht zudem etwas im Vordergrund, das Gespürtes und Filzstoff verbindet.

Auf der Bühne sitzen drei Tänzerinnen mit dem Rücken zum Publikum im Kreis (Emmilou Rößling, Rachell Bo Clark und Tarren Johnson). Sie flüstern miteinander, mal leiser, mal lauter, tauschen sich über alltägliche Begegnungen und Erfahrungen aus. Wir beobachten sie, und bekommen dabei nur Fragmente zu hören – wie man sie vielleicht aufschnappt, wenn man ein Treffen von Freundinnen belauscht. Auf dem mit einer Filzpatchwork-Decke teilbedeckten Tanzboden bewegen sie sich langsam und sorgfältig, ohne Geräusche zu erzeugen, gedämpft und nahezu schwebend. Sitzend bilden sie verschiedene kreisförmige Figuren mit den Händen oder den Füßen. So entstehen kaleidoskopartige Bilder, in die immer wieder ,Tutting’-Moves ihrer sechs Unterarme einfließen.[1] Wie die Tänzerinnen aus dem bekannten Gemälde von Henri Matisse, „La Danse“ (1910), wirken auch diese Tänzerinnen trotz ihrer Unterschiedlichkeiten ähnlich. Schwebend ist auch das Mobile, das mit Hilfe aller – mal steigen sie auf den Rücken einer auf allen Vieren gebeugten Kollegin, mal stützen sie sich nur gegenseitig – aus weiß bemalten Ästen während des Stücks angefertigt wird. Diese stützende Rolle der Gruppe tritt besonders in einem Moment zutage, wo zu dritt ein Glas eingeschenkt wird. Die erste gießt ein Getränk in ein Weinglas, das eine zweite im Mund hält, und nur wenn diese sich wiederum nach hinten beugt, kann die dritte aus dem Glas trinken. Gleichzeitig sind sie eigenständig und verfolgen Pläne: von winzigen Spickzetteln lesen sie ihre Bewegungen. Jede führt ihre eigene Choreografie auf, die aber Teil eines Ganzen ist, und das nicht nur, weil sie auf derselben Bühne aufgeführt werden.

Dennoch vermittelt die Arbeit nicht nur dieses “Zusammensein”, sonst etwas mehr, und deswegen will ich über ihre Wirkung auf mich sprechen. „The Fraternity“ hat mich in einen meditativen Zustand zwischen Realität und Traum versetzt. Meine Wahrnehmung von Zeit verlangsamte, jene vom Raum dehnte sich. Emmilou Rößlings Stück hat mich zu mir selbst zurückgebracht, und ich kam mit einer besonderen Gelassenheit, Zufriedenheit und Leichtigkeit aus der Vorstellung, was mit dem Titel „The Fraternity“ (Brüderlichkeit, Bruderschaft oder Fraternität) und so im weiteren Sinne, Zusammensein, an sich wenig zu tun hat. Das offene Ende – die Tänzerinnen tauschen ihre Kleider und sitzen beisammen, wieder flüsternd – deutet auf eine Zeitlosigkeit (und Zyklizität) der drei Figuren hin, die auch uns, die wir mit ihnen schweben, einschließt. Das Werk ist der Versuch, das Gefühl von Zeitlosigkeit spürbar werden zu lassen – Zusammensein und Teilhabe treten dabei als Themenstränge in den Hintergrund. Rößlings „The Fraternity“ spielt mit Homonymie (‚felt‘ als Gespürtes, aber auch als der Filzstoff) und nicht mit Metaphern, mit deren Hilfe wir normalerweise über Gefühle sprechen. Wir spüren und schweben. Wir halten den Atem an, als eine Tänzerin instabil scheinende Glastürme stapelt – und könnten ihr ewig dabei zuschauen. Im diesem Stück steckt viel mehr, als man auf den ersten Blick sieht.


[1] Tutting ist eine Form von Streetdance.


„The Fraternity“ von Emmilou Rößling ist nochmals heute Abend, am 24. Oktober 2020, um 20:30 Uhr in der Tanzfabrik Berlin Wedding, Uferstudio 1 zu sehen. Das Festival OPEN SPACES – How to get in Touch with… läuft noch bis zum 8. November 2020.