„Inverted Landscapes“, André e. Teodósio (Teatro Praga) ©Kuba Szkudlarek

Wir müssen lernen, die Verleugnung zu reparieren: Inverse Landschaften, Aktionen auf den Straßen, gestohlene Leben

Rezension verfasst von Pêdra Costa.*

Am 11. September 2020 besuchte ich „Inverted Landscapes“, eine Performance unter der Regie von André e. Teodósio (Teatro Praga) aus Lissabon, mit den Performer*innen Ana Tang, Aurora Pinho und Paulo Pascoal. Die Performance wurde im Kunstraum Botschaft / Instituto Camões Berlim präsentiert. Sie begann im Innenraum mit einer Ausstellung von Teodósio und Bruno Bogarim und bewegte sich dann hinaus auf die Straße. 


Zusatz der Verfasserin Pêdra Costa vom 27. November 2020:
„Ihr Lieben in Lissabon, insbesondere Rodrigo Ribeiro Saturnino (@rod_lx): Ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir sehr leid. Ich werde mich nicht vor meiner Verantwortlichkeit angesichts eines Falles von Rassismus, insbesondere Anti-Schwarzen Rassismus innerhalb der Kunstszene in Lissabon, drücken. Der Regisseur der Performance, über die ich diesen Text geschrieben habe, André e. Teodósio, war im Oktober 2020 in Lissabon in einen Vorfall rassistischer Gewalt und Zensur verwickelt. 

Ein in antirassistischer Solidarität engagierter Aktivist hat mich darauf aufmerksam gemacht und mich über die Situation aufgeklärt.
Als ich diesen Artikel über diese Performance schrieb, war mir nicht bewusst, dass der Regisseur eine der Personen war, die an diesem rassistischen Vorfall beteiligt waren.

Um den Vorfall zu verstehen, folgt diesen Links zum Video https://youtu.be/Q9lNyqzo_4o (Portugiesisch mit englischen Untertiteln) und zum offenen Brief „Portuguese Art is Racist“ (“Portugiesische Kunst ist rassistisch”, Portugiesisch und Englisch) https://afrontosas.medium.com/a-arte-portuguesa-%C3%A9-racista-2388d9d1eb2.“


Hallo zusammen.

Höre ich mich besser an, jetzt da ihr mir die Kehle durchgeschnitten habt?

Was macht ihr hier?

Was meint ihr mit elegant?

Wer tanzt im Grab?

Wo habt ihr unsere gestohlenen Leben versteckt?

Und auch in Zukunft gehe ich jeden Tag raus und frage mich, wieviel Leid ich ertragen kann.

Wenn ich hinaustrete, verhandle ich Schmerz.1

Mein Freund Cardo Matos hatte mich zu der Performance eingeladen. Dort traf ich weitere Freund*innen aus Portugal, die ebenfalls in Berlin leben. Sie kannten Teatro Praga bereits. Als ich dort ankam, sah ich auch Grada Kilomba, die früher meine Professorin war.2 Was für eine schöne Zusammenkunft!

Foto: Kuba Szkudlarek

Vor „Inverted Landscapes“ hatte ich noch nie von Ruth Aswin oder Valentim de Barros gehört. Die Performance beruht auf dem Leben dieser beiden Künstler*innen, die auf der Suche nach dem gleichen künstlerischen Ziel um die Welt reisten. Ruth Aswin war Deutsche; sie reiste in den 1930er Jahren nach Portugal, um dort zu tanzen. Wie in der Beschreibung der Performance zu lesen ist, floh Valentim de Barros, Ruth Aswins portugiesische*r Schüler*in, auf der Suche nach Arbeit und Freiheit nach Berlin.

Madame Ruth (1897–1988) reiste von Berlin nach Lissabon, wo sie klassischen Tanz unterrichtete. Mit 16 begann Valentim de Barros bei Ruth Aswin Tanz zu studieren. Mit 20 floh Valentim nach Spanien.

Giftige Länder bringen schöne Blumen hervor.

Im Jahr 1940 oder heute.

Ungezählte Male.

Wir suchen Räume für Singularitäten.

Das Soziale soll dem Individuellen nicht übergeordnet sein.

Der Plural von „Gift“ ist „Menschen“.

Ich schreibe Routen auf; wir zerbrechen alte Namen.3

Nachdem wir die Ausstellung besichtigt hatten, gingen wir nach draußen. Die drei Performer*innen suchten zuerst fast alle Objekte der Ausstellung zusammen und verließen dann den Raum. Draußen, auf dem Bürgersteig vor der Portugiesischen Botschaft, begann Paulo dann zu sprechen, zu tanzen und um uns herumzugehen. Er schaute uns in die Augen. Es gab keine vierte Wand.4

Foto: Kuba Szkudlarek

Dann befahl uns Aurora, ihr zu folgen, und wir liefen in Richtung des Jugendparks der WBM. Aurora blieb stehen und tanzte einen gebrochenen Tanz; ihr Körper bildete dabei eckige Zeichnungen. Ich erkannte darin die Bewegungen der Ballroom-Szene.5 Ihre Art zu sprechen war abgehackt und ihre Stimme erinnerte mich an einen kaputten Roboter. Oder vielleicht übersetzte ihr Körper einen unmöglichen Tanz, eine unhörbare Sprache, einen unerkannten Ausdruck, eine ausgelöschte Geschichte?

Foto: Kuba Szkudlarek

Die drei Performer*innen unterhielten sich; ihre Worte hallten nach, als wir die Straße überquerten. Sie führten uns in den Park. Der Lärm der Polizeisirenen auf der großen Straße am Park schwappte zu uns über, vermischte sich mit den Worten der Performer*innen und brachte Unruhe in das städtische Bild. Ana begann im Park zwischen den Bäumen zu tanzen. Manchmal twerkte sie; sie stand uns mit ihrem Körper gegenüber. Getragen von ihrem herausfordernden Blick drangen ihre spitzzungigen Worte tief in uns ein. Plötzlich rief sie laut „Coronavirus!“ in Anlehnung an den viralen Clip von Cardi B.6 Der Titel der Performance war auch Teil der Kostüme: Er war auf Streifen geschrieben, die von den Körpern der Performer*innen hingen. Sie kannten viele Geschichten. Ihre Körper stellten Landschaften auf den Kopf. Deswegen standen sie hier vor uns.

Foto: Kuba Szkudlarek

Straßenperformances sind etwas für Leute, die darin erfahren sind, an den Intersektionen7 zu verhandeln und zwischen den Welten zu stehen. Sie sind für diejenigen, die verstehen, dass ihre Körper unter der Wirkmacht der nekropolitischen Fetischisierung stehen und die dennoch weitermachen – und dabei sich selbst und die Gesellschaft transformieren. Es sind Körper, die nicht um Erlaubnis bitten. So wird eine Performance in einem städtischen Raum zu einer Konfrontation – einer realen Konfrontation, im Gegensatz zu ihrer Wirkung, würde sie in einem Kunstraum präsentiert werden. Auf der Straße gibt es keinen Vertrag, keine willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit.8 Es ist rohes, raues Leben. Es ist eine Aktion, die die Menschen in der Stadt erreicht, ohne sie vorher einzuladen. Und man kann sich nicht davor schützen.

Seit langer Zeit tragen wir diese Welt wie eine Narbe.

Huren, People of Colour, trans Menschen, queere Menschen, von den kostbaren Jahren lobotomisiert.

Wir haben gelernt, Schmerz gegen Räume einzutauschen.

Wir zerstören Geschichte und verkaufen Schulden.9

Von 1939 bis zum Lebensende 1986 war Valentim de Barros in einer psychiatrischen Anstalt eingeschlossen; ihr*sein Leben was das einer*s Gefangenen. Die Diagnose lautete: Homosexualität. Valentim, der*die erste portugiesische Ballerina*o, der*die außerhalb Portugals auftrat, wurde niemals als Künstler*in anerkannt und auch nicht als Trans-Person.10 Lissabon, 21. Januar 1949: Valentim betrat als „Transvestit“ eine öffentliche Frauentoilette, eine cis-Frau flippte aus, weil sie Valentim als „Mann“ sah. Valentim schlug sie. Zu dieser Zeit stand Portugal unter der Diktatur Salazars.

GIB MIR EIN F

GIB MIR EIN U

GIB MIR EIN C

GIB MIR EIN K

Sind die darstellenden Künste in dieser Zeit der Einschränkungen, der kollektiven Verantwortung und des individuellen Lernens noch von Bedeutung? Werden Performances zukünftig auf der Straße passieren? Welche Risiken kommen mit Performances im öffentlichen Raum einher? Werden die darstellenden Künste weiterhin als Kunst gelten, wenn sie außerhalb von Kunsträumen aufgeführt werden? Für wen ist die Kunst? Was ist von der Stadt zu erwarten, wenn eine Performance in sie einfällt? Um welche (materielle und immaterielle) Räume und Zeit geht es; was steht auf dem Spiel? Welche Kräfte werden aktiviert, um ‚öffentliche‘ Räume zu schützen? Kann „nur die Kunst uns retten“?

Foto: Kuba Szkudlarek

Eine der unmittelbaren Antworten auf diese Fragen liefert vielleicht das, was bei der Probe am Tag vor der Premiere passierte. André e. Teodósio, der Regisseur der Performance, berichtete in den sozialen Netzwerken: „Während der Performance auf der Straße […] wurden wir von Sicherheitsbeamten von @axelspringer_se von der Straße verwiesen. Sie behaupteten, dass die Straße ihnen gehöre, dass die Reste der Berliner Mauer ihnen gehörten, dass die Straße ihnen gehöre […] Wir mussten den Bereich und alle Orte in der Umgebung verlassen.“

Oder wie im Fall von Mujeres Creando (aus La Paz in Bolivien) auf dem Fest des Lachens: Wer lacht(e) wann über wen?, einer politisch-künstlerischen Kulturveranstaltung in Linz in Österreich im Jahr 2012, veranstaltet von maiz kultur, einem autonomen Zentrum von und für Migrantinnen. Die städtische Intervention von Mujeres Creando war ein Graffito auf dem öffentlichen Platz vor dem Ars Electronica Center: Sie schrieben mit Sprühkreide Sätze auf den Boden. Ein großer, weißer cis-Mann kam aus dem Ars Electronica Center heraus und befiehlt (!) den Künstler*innen auf Deutsch, sofort „damit“ aufzuhören. Der*die Anwalt*in von Mujeres Creando zeigte ihm das offizielle Genehmigungsschreiben der Stadt für diese Aktion. Aber das war ihm egal. Er rief die Polizei. Erst als die Polizei ihm bestätigte, dass es in der Tat eine Genehmigung dafür gab, wollte er es hören. Um „alle zu beruhigen“, führte die Polizei als möglichen Grund an, dass der Mann wahrscheinlich das Deutsch der Künstler*innen und Organisator*innen einfach nicht verstanden hatte. So begann eine weitere Diskussion… Ich war da, ich habe alles gesehen.

Der Verkehr ist ruhig; das wolltet ihr doch.

Unsichtbarkeit, Amnesie.

Um aus Wissenshierarchien auszuschließen.

Ausradierte Namen.11

Foto: Kuba Szkudlarek

Valentim wurde bei der Ankunft in Portugal am 2. Januar 1939 von der Polizei verhaftet. Die Anklage vor Gericht gab an, dass Valentim wegen Verwendung einer falschen Identität aus Deutschland ausgewiesen worden war. Nach drei Monaten im Gefängnis wurde Valentim in ein Krankenhaus namens Sanatorium Bombarda überführt. Der Arzt, der die psychiatrische Untersuchung durchführte, hielt in seinem Bericht fest: „Er begrüßt mich am Eingang, setzt sich, wenn ich es anordne. Seine feminine, melancholische und anhängliche Art gibt seine sexuelle Inversion preis. Er ist sehr ruhig und besitzt einen natürlichen Sinn für Humor. Seine Antworten auf meine Fragen sind lang, ausführlich und detailliert; verweiblichte Stimme.“ Diagnose: „Homosexuelle Psychopathie und passive Päderastie.“ Valentim war 22 Jahre alt. In den Jahren darauf wurde er einer Lobotomie und Elektroschockbehandlung unterworfen.

Mein Kopf ist voller Zeug!

Seitdem ihr mich isoliert habt.

Ich lese keine Sternscheiben,

Ich wildere keine Adleraugen.

Ich ziehe Winkel, ich repariere die Verleugnung.12

Wie tanzt man unter einem autoritären Regime? Wie tanzt man, wenn man als krank abgestempelt wurde? Letzten Endes zeigt mir „Inverted Landscapes“ wieder, wie sehr wir versagt haben.

Foto: Kuba Szkudlarek


Deutsche Übersetzung von Nine Yamamoto-Masson 

* Rezension verfasst von Pêdra Costa. Pêdra Costa ist eine brasilianische Performance-Künstlerin und Anthropologin. Sie arbeitet mit queeren migrantischen Künstler_innen und beschäftigt sich mit den Themen Post-Porno und anti-kolonialen Praktiken. 

  1. Dieser Text wurde vom Regisseur André e. Teodósio geschrieben und wurde von den Performer*innen vorgetragen. Er ist auch im Trailer zu hören: https://vimeo.com/456924969.
  2. 2013 an der Humboldt Universität zu Berlin. Die interdisziplinäre Künstlerin und Autorin Grada Kilomba wurde in Lissabon geboren und lebt in Berlin.
  3. Dieser Text wurde vom Regisseur André e. Teodósio geschrieben.
  4. In Performance- und Theaterkontexten ist die vierte Wand die imaginäre Wand, die zwischen Performer*innen und Publikum steht.
  5. Siehe Paris Is Burning (1990), Dokumentarfilm von Jennie Livingston über die Ballroom-Szene.
  6. Die Meinungen von Cardi B über COVID-19, die sie auf den sozialen Netzwerken teilt, gehören zu den beliebtesten Quellen für Memes während der pandemiebedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens.
  7. „Meine Position in der Welt ist an den Intersektionen“: https://amlatina.contemporaryand.com/editorial/pedra-costa/
  8. In den Theaterwissenschaften häufig benutzter Terminus, beschreibt die Bereitschaft des Publikums oder des*der Leser*in, die Vorgaben einer fiktionalen Erzählung (z.B. ein Theaterstück, Roman, Film) als geltend zu akzeptieren, auch wenn diese unlogisch, unmöglich oder fantastisch sind.
  9. Dieser Text wurde vom Regisseur André e. Teodósio geschrieben.
  10. Ausgehend von den historischen Quellen und aus der Perspektive des gegenwärtigen Wissens kann ich versichern, dass Valentim eine Trans-Person war, und nicht ein sogenannter Transvestit.
  11. Dieser Text wurde vom Regisseur André e. Teodósio geschrieben.
  12. Dieser Text wurde vom Regisseur André e. Teodósio geschrieben.