„The Sound They Make When No One Listens“, Thiago Granato ©Rafael Medina

Tanz im August 2021 Talkabout #2

Für den zweiten Teil ihres Tanz im August „talkabouts“ besuchten Eli Frasson und Evgeny Borisenko die Weltpremiere von Thiago Granatos „The Sound They Make When No One Listens“ am 19. August 2021 in den Sophiensælen. Im Anschluss an die Vorstellung saßen sie gemeinsam im gemauerten Innenhof der Sophiensæle und diskutierten über die Performance, welche die verschiedenen Facetten und politischen Konnotationen des Zuhörens untersucht. Am Tag darauf, dem 20. August, gingen Eli und Evgeny zum Lilli-Hennoch-Sportplatz, um der Weltpremiere von Milla Koistinens „Breathe“ beizuwohnen, bei der sie mit zwei riesigen, bunten aufblasbaren Stoffen und dem Publikum auf dem Fußballplatz spielte. Nach der Vorstellung fanden Eli und Evgeny einen gemütlichen Platz in der Nähe der Ruine des Anhalter Bahnhofs, wo sie sich zusammensetzten und über die Vorstellung sprachen.


“The Sound They Make When No One Listens” von Thiago Granato und „Breathe“ von Milla Koistinen sind noch bis zum 22. August 2021 zu sehen. Im ersten Teil ihrer talkabouts diskutieren Eli Frasson and Evgeny Borisenko “WEG” von Ayelen Parolin / RUDA.


*** “The Sound They Make When No One Listens” von Thiago Granato ***

Evgeny

Bevor ich fortfahre, muss ich wirklich sagen, dass ich von dieser Performance absolut begeistert war. Normalerweise mache ich mir während einer Aufführung viele Notizen, aber heute Abend habe ich einfach aufgehört zu schreiben. Ich war kein Tanzschreiber mehr.

Eli

Ich habe dieses Stück sehr körperlich empfunden und war physisch mit der Bewegung verbunden. Als Ergebnis dieser starken Verbindung konnte ich spüren, wie sich die Spannung in meinen Gelenken löste. Zu Beginn des Stücks machte ich mir einige Notizen, aber danach konnte ich mich nur noch auf die Wahrnehmung der Tänzer*innen konzentrieren, da sie die ganze Zeit über so präsent waren. Diese Absicht, intensiv zu sein und sich mit der Beziehung zum Publikum zu beschäftigen, war allgegenwärtig und nahm mit der Zeit zu. Das könnte erklären, warum wir uns während der Aufführung keine Notizen machen konnten. Was meinst du?

Evgeny

Ganz genau. Als ich las, dass wir eine Performance über aktives Zuhören sehen würden, erwartete ich, dass es langsam und ruhig zugehen würde – und so beginnt das Stück auch mit einer langen Szene, in der die drei Darsteller*innen regungslos verharren, der Stille lauschen und das Publikum anstarren – aber dann beginnt die Spannung zu wachsen. Als sie dann etwas in die Hand nehmen, das wie eine lange Metallstange aussieht, begibt sich der Abend auf unbekanntes Terrain.

Eli

Ich glaube, die Art und Weise, wie die Darsteller*innen das Zuhören verarbeiteten und verkörperten, ging über die eigentliche Choreografie hinaus. Sie verlangten voneinander und von uns, dem Publikum, eine aktive Art des Zuhörens. Sie hielten eine sorgfältige Aufmerksamkeit untereinander aufrecht, hörten immer aufeinander und auf den Raum.

Evgeny

Ja, die drei Performer*innen waren sich ihrer Gegenseitig voll bewusst – aber ich hatte den Eindruck, dass sie dem Raum um sie herum noch mehr Aufmerksamkeit schenkten als sich selbst. Sie tasteten den Bühnenraum methodisch mit den Metallstäben, ihren Händen und Füßen ab, als ob sie nach etwas Verborgenem suchen würden. Die Art und Weise, wie die Tänzer*innen mit den Stäben arbeiteten, erinnerte mich an Bōjutsu, eine japanische Kampfkunst, bei der die Kämpfer*innen lange Bambusstäbe als Schwerter benutzen.

Eli

Die Metallstangen schienen auch eine Möglichkeit zu sein, den Raum zu vermessen und zu erkunden. In der Mitte der Bühne waren Stangen zwischen Boden und Decke befestigt. Die Tänzer*innen benutzten die Stangen, um diesen Raum zu erkunden. Bei dieser Aktion konzentrierten sie sich nicht nur auf ihre Bewegungen, sondern auch darauf, wie die Stangen mit dem umgebenden Raum in Beziehung traten.

Evgeny

Ich dachte viel über den Akt des Zuhörens nach, während ich den Abend verfolgte. In einem Interview mit dem Tanz im August Magazin aus dem Jahr 2020 erklärt Granato, dass es in seiner Arbeit darum gehe, „die Perspektive eines anderen einzunehmen und zu versuchen, sich in die Lage eines anderen zu versetzen“. Er sagt, er möchte, dass wir „durch die körperliche Bewegung hindurchschauen und über die bloße Körperlichkeit hinausgehen“, um unsere „Neugierde auf den Akt des Zuhörens“ zu wecken. Für eine*n Choreograf*in, der*die mit Körpern auf der Bühne arbeitet, ist der Verzicht auf die immense Bedeutung der körperlichen Bewegung eine gewagte Aussage, findest du nicht auch?

Eli

Die Performer*innen regten das Publikum zu einer Art des tiefen Zuhörens an und forderten es auch irgendwie dazu auf, ähnlich aufmerksam zu sein, wie sie es selbst waren. Sie suchten beharrlich nach einer Intersubjektivität der Gesten, verbunden mit einer kontinuierlichen Verkörperung und Verhandlung der Bewegungsmuster zwischen ihnen. Dank dieser Beharrlichkeit begann ich, nach einem Trancezustand zu suchen. Was waren deine Gedanken zu diesen Bewegungen?

Evgeny

Ein Bild hat mich wirklich umgehauen. Als die Tänzer*innen die Metallstäbe in die Hand nahmen und sich hinlegten, um dann langsam über die Bühne zu kriechen, wobei sie eine Reihe seltsamer, stotternder Bewegungen ausführten, die mich an die halbbewussten Gesten erinnerten, die man manchmal beim Aufwachen aus einem Albtraum macht. Es war, als sähe ich mich selbst auf der Bühne liegen und ängstlich versuchen, einen schlechten Traum abzuschütteln.

Eli

Dieser emotionale Zustand wurde dem Publikum als choreografische Erfahrung in einer körperlichen Bewegung vorgeführt, und auch später, als die Tänzer*innen die Stangen zu einer Art Floß machten, war es, als ob sie nach Erlösung oder einer Art Überleben suchten. Ich fand, dass das Streben nach einem Überlebenszustand ein wirklich starkes Bedürfnis während des gesamten Stücks war.

Evgeny

Es scheint, als ob Zuhören für Granato eine Überlebensstrategie sei. Wir leben in einer Welt, die uns ständig dazu drängt, Inhalte zu produzieren, zu sprechen, zu schreiben, Raum zu besetzen. Wir haben kaum Zeit, innezuhalten und uns gegenseitig zuzuhören. Granato bietet uns eine Alternative, indem er uns einlädt, durchlässig und aufnahmefähig zu werden, zuzuhören, anstatt ständig zu sprechen. In diesem Sinne hat „The Sound They Make When No One Listens“ eine ganz klare politische Agenda. Und die ist ziemlich radikal.

Eli

In diesem Stück haben wir auch gesehen, auf welche Art uns ein Klang berühren kann, wenn dieser choreografisch sichtbar gemacht wird.

Evgeny

Erinnerst du dich an den Moment gegen Ende der Aufführung, als die Tänzer*innen die Stangen fallen ließen und zu laufen begannen, als ob die Schwerkraft plötzlich zugenommen hätte und als ob es ihnen schwerfiele, ihre Füße vom Boden zu lösen? Es war, als würden sie darum kämpfen, die Senkrechte zu halten und in Bewegung zu bleiben, oder als ob sie gegen unsichtbare Windstöße ankämpften, die sie von den Füßen zu stoßen drohten.

Eli

Ich habe dieses Bild geliebt! Nach dieser Szene waren die Gesten der Tänzer*innen sehr zurückhaltend. Wenn Arantxa Martinez zum Beispiel ihre Brust berührte oder Granato kleine Bewegungen mit seiner rechten Hand hinter dem Rücken machte, war es, als ob ihre Arme und Hände, die nun von den Stangen befreit waren, die zu einer Art zusätzlichem Gelenk geworden waren, nach anderen Möglichkeiten suchten, in ihren Bewegungen zu lauschen.

Evgeny

Kürzlich las ich einen Artikel von Loup, einem Mitglied des Kollektivs Dance For Plants, in dem sie den Akt des Zuhörens als „das radikalste Geschenk, das dein Körper der Welt machen kann“ beschreibt. Es geht darum, „sich von der Welt einnehmen zu lassen, sich mutieren zu lassen, sich dafür zu entscheiden, von dem, was man einfach hätte ignorieren können, verwandelt zu werden“. Ich denke, dies fasst Granatos Arbeit sehr gut zusammen, die an sich schon ein sehr radikales Geschenk an uns, die Zuschauer*innen, ist.

***


*** “Breathe” by Milla Koistinen ***

Photo: “Breathe”, Milla Koistinen ©Jan Isaak Voges

Eli

Mir gefiel sehr, wie die Performerin und Choreografin Milla Koistinen das Fußballfeld und zwei riesige farbige aufblasbare Stoffe nicht nur als choreografische Objekte, sondern auch als zwei weitere Performer*innen einsetzte. Es war, als sähen wir drei Darsteller*innen auf der Bühne und nicht nur eine*n. Was fiel dir besonders auf?

Evgeny

Ich merkte, wie die Zuschauer*innen ihre Plätze auf dem riesigen Fußballfeld gewählt haben. Einige rannten herum und versuchten, bessere Plätze zu finden, während andere es vorzogen, Abstand zu halten und die Show aus der Ferne zu beobachten. Ich sah sogar eine schlafende Person und ein kleines Mädchen, das Koistinen überall hinterherlief und ihre Bewegungen nachahmte. Wir hatten vor der Aufführung alle einen Audiotrack heruntergeladen, und die Tatsache, dass wir dieselbe Musik hörten, verringerte die Distanz zwischen uns und der Darstellerin. Die Musik war beruhigend und entspannend, vor allem am Anfang, und ich fühlte mich sehr wohl, als ich auf dem weichen Boden lag und die Show sah.

Eli

Ich empfand ein ähnliches Gefühl der Entspannung durch die Musik. Aus meiner Sicht, und ich spreche hier nur von der Musik, fand ich sie manchmal ein bisschen zu didaktisch, obwohl sie eine passende Klangkulisse für die Bewegungen zu sein schien. Ich mochte die Möglichkeit, mich zu bewegen, zu sitzen oder zu stehen, oder mich hinzulegen und mit dem weichen Boden des Fußballfeldes zu verschmelzen.

Evgeny

In ihrem Interview mit dem Tanz im August Magazin aus dem Jahr 2020 erzählte Koistinen, dass ihr Vater Profifußballer war und dass sie selbst auch Profisportlerin werden wollte. Als sie in ihrer Heimatstadt auf einen neu errichteten Fußballplatz stieß, dachte sie sofort daran, den leeren Platz in einen Tanzort zu verwandeln. Ich finde diese persönliche Herangehensweise an die Entstehung ihrer Arbeit sehr berührend! Ihr Tanz enthält zahlreiche Bezüge zum Fußball und zur Leichtathletik. Was waren deine Gedanken zur choreografischen Partitur von „Breathe“, Eli?

Eli

Mir ist aufgefallen, dass die Partitur auf einigen spezifischen Gesten basiert, die als körperlich, sportlich oder politisch interpretiert werden können. Zum Beispiel überquerte Koistinen gleich zu Beginn des Stücks das Fußballfeld in Richtung eines der Seitentore, hob ihre linke Faust und blickte in die Ferne. Ich vermute, dass dies eine Anspielung auf die afroamerikanischen Athleten John Carlos und Tommie Smith während der Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexiko-Stadt war. Ich erkannte auch Bewegungen, die mich an die Reaktion einer Menschenmenge auf ein Tor erinnerten, und einige andere, die an Athlet*innen erinnerten, die vor Freude auf die Knie fallen. Ich fand diese Nachstellung bekannter Gesten hilfreich, um mich in eine bestimmte Situation hineinzuversetzen und sie wiederzuerkennen. Ich habe sie auch als eine Kritik an der Beziehung zwischen einem*einer Sportler*in und dem Publikum gelesen, die durch die Intimität einer Solo-Performance vermittelt wird.

Evgeny

Ja! Ich stimme dir zu. Ich habe auch eine Anspielung auf Usain Bolts typische Siegerpose bemerkt! Erinnerst du dich an den Moment, als Koistinen mit erhobenen Armen in der Mitte der aufgeblasenen Objekte stand und der Stoff begann, sie zu verschlucken oder einzusaugen? Sie schien zu verschwinden und tauchte dann fast sofort wieder auf, als hätte sie sich irgendwie durch den Stoff hindurchbewegt. Es war wie Magie! Ich frage mich, ob es in den aufgeblasenen Objekten eine Art versteckten Windmechanismus gab, der sie über das Feld trieb.

Eli

Ich fand es auch interessant, wie sie lief und die bunten aufblasbaren Stoffe bewegte. Es fühlte sich an, als würde sie wirklich rennen, wie eine Athletin oder eine Fußballspielerin. Die Anstrengung und die Freude an der Aktion waren in ihrem Gesicht zu erkennen.

Evgeny

Ganz genau. Einmal rannte Koistinen direkt an mir vorbei und ich bemerkte, wie glücklich sie war! Es ist ziemlich selten, dass man einen Ausdruck purer Freude auf dem Gesicht eines*einer Tänzer*in sieht, aber sie hatte eindeutig eine Menge Spaß beim Tanzen! Ich muss allerdings sagen, dass es mir schwerfällt, dieses Stück als etwas anderes als „Wohlfühlstück“ zu beschreiben. Aber auch wenn Koistinen kein bestimmtes Ziel zu verfolgen schien, gelang es ihr doch, einen Fußballplatz in eine Open-Air-Tanzbühne zu verwandeln, auf der wir uns alle willkommen fühlten. Das Finale der Show war ebenfalls sehr schön. Koistinen ging einfach weg, schloss die Tür hinter sich und verschwand in der Nacht, wobei sie uns mit einer gelben Rauchbombe und den aufblasbaren Tüchern allein im Raum zurückließ. Sie kam nicht zurück, um den Beifall entgegenzunehmen. Ich persönlich liebe solche schwebenden Enden, wenn das Publikum klatscht, dann aber irgendwann aufhört, weil niemand mehr da ist, dem*der applaudiert werden kann.

Eli

Ich muss zugeben, dass ich es auch oft mag, wenn Darsteller*innen am Ende eines Stücks die Bühne verlassen und nicht zurückkommen. Und in diesem Fall passte es zur Atmosphäre des Stücks. Ich hatte das Gefühl, mich mit den aufblasbaren Stoffen ‚angefreundet‘ zu haben, und am Ende der Performance war ich bei ihnen. Ich hatte das Gefühl, in guter Gesellschaft zu sein, sodass Koistinen gar nicht bleiben musste. Sie hatte bereits eine Art Spielplatz für uns gebaut. Die Entscheidung, das Publikum mit ihr auf dem Spielfeld zu haben, fühlte sich wie eine politische Entscheidung an. Die Aktion hatte den Effekt, dass sie meine Perspektive umkehrte – sowohl visuell als auch physisch. Dort zu sein, wo das Publikum normalerweise nicht sein darf, empfand ich als eine transformative und damit auch politische Aktion. Koistinen verwandelte uns in eine temporäre Gemeinschaft. Wir waren in der Lage, den Raum mit anderen Augen zu sehen.

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Deutsche Übersetzung von Alex Piasente


Die beiden Inszenierungen “The Sound They Make When No One Listens” von Thiago Granato und “Breathe” von Milla Koistinen wurden bei Tanz im August – 33. Internationales Festival Berlin uraufgeführt, zu sehen vom 19.-22. August 2021. Die Autoren empfehlen auch LISTEN.doc, einen Dokumentarfilm über die Entstehung von „The Sound They Make When No One Listens“.


“The Sound They Make When No One Listens”: Concept, Artistic Direction, Choreography — Thiago Granato. Co-creation & Assistant Director — Sandro Amaral. Created and Performed by — Arantxa Martinez, Roger Sala Reyner, and Thiago Granato. Dramaturgical Advice — Lisa Stertz. Light — Claes Schwennen. Sound — David Kiers. Sound Assistance — Andrea Parolin. Production Manager — Sandro Amaral. Administration — René Dombrowski.


“Breathe”: Concept, Choreographer, Performer  Milla Koistinen. Artistic Collaboration  Fanny Didelo. Dramaturg  Synne Behrndt. Artistic Advisor  Sergiu Matis. Music  Paul Valikoski, Grégoire Simon. Space & Light — Sandra E. Blatterer. Costume  Lee Méir. Production Manager  Jana Lüthje. 


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