„Postcolonial Spirits“, Choy Ka Fai ©Dajana Lothert

Tanzkörper zwischen Geisterbeschwörung und Live-Stream

Im Rahmen der 33. Ausgabe des Festivals Tanz im August wurde vom 12. bis 15. August 2021 die Performance „Postcolonial Spirits“ von Choy Ka Fai im HAU1 uraufgeführt. Das Projekt ermöglicht einen multimedialen, dokumentarischen Einblick in den indonesischen Tanz Dolalak, dessen Heimat die Insel Java ist. Zusätzlich zur Performance wird vom 6. bis 22. August die Ausstellung „CosmicWanderer: Expedition“ im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst präsentiert. Die Ausstellung zeigt die anthropologische Reise, die Choy Kai Fai auf seiner Suche nach Schamanen und übernatürlichen Tänzen in Sibirien unternommen hat.   

Die Geschichte der (post)modernen und zeitgenössischen (darstellenden) Kunst ist untrennbar mit transkulturellen Verflechtungen verbunden, in denen westeuropäische Theater- bzw. Tanzformen durch den Kontakt mit nicht-europäischen Traditionen verändert wurden. Hier könnte man an Namen wie Antonin Artaud denken, der das Vorbild für die szenische Revolution im balinesischen Theater und bei mexikanischen Schamanen gefunden hat. Ein weiteres Beispiel wäre Bertolt Brecht, dessen Verfremdungseffekt unter dem Einfluss der Ästhetik der Peking Oper stand. Fazit: die klassischen Darstellungsformen des Abendlands wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert und durch neue ästhetische Formeln, die aus anderen Kulturen stammen, erweitert. Ein anderer Impuls, der die Praxis der darstellenden Kunst in den letzten 60 Jahren transformiert hat, war die experimentelle Verwendung neuer Medien und digitaler Technologien. Diese zwei Elemente spielen in den Projekten „Postcolonial Spirits“ und „CosmicWander: Expedition“ eine entscheidende Rolle.

Der aus Singapur stammende und bereits seit einigen Jahren in Berlin lebende Künstler Choy Ka Fai entwickelt seine künstlerischen Arbeiten im transdisziplinären Dialog zwischen Choreografie, Performance, Medienkunst und anthropologischer Forschung. Den Ausgangspunkt von „Postcolonial Spirits“ bildet die medial vielschichtige Aufführung des traditionellen javanischen Tanzes Dolalak. Der Tanz ist ein Relikt niederlӓndischer Kolonialisierung in Indonesien. Wie die Berichte und Zeug*innen erzählen, beobachteten die Einheimischen die Gesten und Haltungen betrunkener Kolonialsoldaten auf den Plantagen und ahmten sie nach, wodurch choreografische Partituren von einfachen Bewegungen entstanden. Der Höhepunkt der Choreografie sind schnelle Schulterbewegungen, die die Tänzer*innen in einen Trancezustand versetzen, der sie mit Geistern in Verbindung treten lässt. Es handelt sich um eine Aufführungspraxis, die nicht der reinen Unterhaltung dient, sondern auch eine rituelle, soziale Funktion ausübt und damit den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärkt. Während des Unabhängigkeitskriegs in den 1940er-Jahren, der mit der Selbstständigkeit Indonesiens endete, figurierte Dolalak als religiöses und politisches Instrument im Kampf gegen die niederländische Herrschaft. Somit ist der Tanz ein wesentlicher Teil kultureller Erinnerung an den antikolonialen Aufstand. In anderen Worten: der Widerstand wurde getanzt. 

Die Aufführung beginnt mit einem Video, welches auf Split Screen historisch-anthropologisches Bildmaterial zusammen mit zeitgenössischen Aufnahmen von Dolalak zeigt. Danach werden via Livestream Tänzer*innen aus Java zugeschalten. Neben der digitalen Projektion, die einen Effekt von Telepräsenz erzeugt, ist Vincent Riebeek, ein niederländischer Tänzer – der mit dem Publikum seine Familiengeschichte und Erinnerungen im Laufe des Abends teilen wird – auf der Bühne anwesend. Diese komplexe mediale Anordnung führt dazu, dass die Grenzen zwischen Dokumentarismus und Fiktion, Anwesenheit und Absenz sowie zwischen Erinnerung und Gegenwart verunsichert werden. Dennoch ist den narrativen und choreografischen Strukturen leicht zu folgen und als Zuschauer*in fühlt man sich in das szenische Geschehen involviert, auch wenn es keine direkte Aufforderung zur Partizipation gibt. 

Riebeek berichtet ausführlich über seine Familiengeschichte bzw. seinen bisexuellen Opa, seine Oma und seine Mutter, die in Indonesien geboren wurde und dort bis zum Unabhängigkeitskrieg lebte. Die autobiografischen Erzählungen in Wörtern, Bildern und prächtigen Kostümen wird von Solotänzen unterbrochen, in denen er sich im Code des klassischen Balletts bewegt oder den Dolalak verkörpert. Neben den Soloaufführungen kommen szenische Konstellationen zu Stande, in denen Riebeek synchron mit Andri Kurniawan tanzt, der als Projektion auf der Leinwand zu sehen ist. Als dritter Tänzer figuriert ein 3D-Avatar, der wie ein digitaler Double von Riebeek aussieht. Akustisch ereignet sich die Aufführung in einer spezifischen Atmosphäre, die durch einen rhythmischen Trommeltakt ausgelöst wird. Die auditive Dimension intensiviert daher den Eindruck, man würde an einem Ritual teilnehmen. Dass „Postcolonial Spirits“ die Grenzziehung zwischen Kunst, Fest und religiöser Feier zu verschieben versucht, wurde in den letzten fünf Minuten der Aufführung eindeutig. Die glitzernden Strahlen der Diskokugel, theatraler Nebel, ein intensives Lichtspiel und die pulsierende klangliche Kulisse verwischen die Abgrenzung von Bühne und Auditorium. Konzeptuell war dies jener Punkt, an dem die postkolonialen Geister einen fluiden, atmosphärischen Körper bekamen. Gleichzeitig war es ein eindringliches leibliches Erlebnis. 

Würde man nach konzeptuellen Verbindungen zwischen der Aufführung und der Ausstellung im KINDL suchen wollen, könnte man als Knotenpunkt den Körper im Trancezustand detektieren. Wie die Aufführung, aber mit anderen Mittel und einer anderen institutionellen Aura, fokussiert die Ausstellung „CosmicWander: Expedition“ unterschiedliche schamanische Erfahrungen, in denen der Körper und der Mensch auf der Schwelle zum Jenseits porträtiert werden. Seine aufwendigen Forschungsreisen führten ihn nach Sibirien, wo Choy fünfzig Schaman*innen getroffen hat und ihre Tanzrituale dokumentiert und archiviert hat. Das Material wird in Form von Videoinstallationen ausgestellt. Die Körper werden dabei in ihrer Vielfalt inszeniert: als physisch-materielle, digitale und letztendlich spirituelle Körper. Im Begleitungstext zu Ausstellung wird erklärt: „Geistermedien verwandeln sich in Spirit-Tuber:innen, eine unerhörte und fantastische Vermischung des Weltlichen und Spirituellen.“ Indem der Künstler mythologisch-metaphysische Phänomene mit neuen Technologien und populärer Kultur in Verbindung bringt und nach Überschneidungen sucht, erzeugt er einen hybriden, multisensorischen Raum. Natur und Apparaturen, Menschen und Geister widersprechen sich nicht, sondern leben zusammen. Auf diese Weise wird das komplexe Bild eines posthumanen, postkolonialen und queeren Subjekts offengelegt. Ähnlich wie bei Artaud, erneuert sich die Kunst in dieser Konstellation aus der Begegnung mit Geistern und Körpern, die einer anderen Choreografie folgen. Einer, in der Herz und Gehirn im selben Takt tanzen.   


Die Ausstellung „CosmicWander: Expedition“ von Choy Ka Fai kann noch bis zum 22. August 2021 täglich von 12 bis 20 Uhr im Rahmen von Tanz im August im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst (Am Sudhaus 3, 12053 Berlin-Neukölln) besucht werden. Ticketinformationen finden Sie hier.