„Aeon II“, Sandra Man und Moritz Majce ©Moritz Majce+Sandra Man

Choreografische Konstellationen der Endzeit

Das Projekt „Aeon II“ von Sandra Man und Moritz Majce wurde vom 5. bis 12. August 2021 in Form einer Live-Installation aufgeführt. Auf einer Brache in der Landsberger Allee im Osten Berlins (neben dem Möbelgeschäft Höffner) inszeniert das Künstlerduo ein poetisch-choreografisches Ereignis, welches intensive Körper- und Raumwahrnehmung zum Ausdruck bringt.

Es scheint eine menschenleere Landschaft zu sein, dieses abgesperrte Brachland gegenüber von Plattenbauten und der Straßenbahn M6, die nach Marzahn führt. Ein fremdes Hier, das gleichzeitig auf ein Anderswo verweist. Eine offene Bühne für die unendliche Zeit des Abdriftens und des Näherkommens. Als dritter Teil der Trilogie, die mit dem Projekt „Choros“ (2016) begann und sich mit der Arbeit „Chora“ (2019) weiterentwickelte, entfalten Man und Majce mit „Aeon II“  (Ko-Produktion: Tanzfabrik Berlin) eine Raumchoreografie im Draußen, die eine Topografie ohne Fluchtpunkt hervorbringt und das Publikum in mobile Zuschauer*innen verwandelt.

Noch während man sich der Spielstätte nähert, kann man aus der Straßenbahn weiße Figuren sehen, die sich hinter dem Zaun bewegen. Im ersten Teil, der von Sandra Man gestaltet wurde und den Titel „The Reunion“ trägt, stehen zwei Texte im Fokus („The Swamp“ und „Die Straße“), die von den Tänzerinnen Lisa Densem und Joséphine Evrard aufgeführt werden. Die Performerinnen bewegen sich scheinbar ziellos über die gesamte Fläche und wiederholen konzentriert ihren Sprechakt. Man kann sich ihnen nähern oder sie aus Distanz beobachten. Sobald man sich jedoch zu weit entfernt, hört man die Texte nicht mehr, wodurch die Wahrnehmung auf die Relation der Figuren und der Landschaft gerichtet wird. Wenn man aber ganz in ihre Nähe kommt und sich auf den Klang der gesprochenen Sätze einlässt, erzeugt ihre Aufführung eine nahezu meditative Wirkung. Der Rhythmus und die poetischen Bilder, die durch das Sprechen zu Stande kommen, befördern ein in sich Hineinhören, das introspektive Assoziationsprozesse in Gang setzt. Diese intensive Raumwahrnehmung hat einen ekstatischen Zeitsinn als Konsequenz. Es ist ein Gefühl, als würde die Zeit sich langsamer ausdehnen. Die Schritte werden zögernder und plötzlich fühlt man die vibrierende Anwesenheit anderer Lebensarten, die die Landschaft bewohnen: Blumen, Bäume, Vögel, Insekten und drei Hasen, die vorsichtig die Fläche einnehmen, sobald die Menschen ihren existentiellen Raum verlassen. Eine Textpassage, welche die Atmosphäre prägnant zusammenfasst, lautet: „Ich höre, wie die Stimme auf- und absteigt. Wie ein Minenarbeiter bewegt sie sich zwischen Bauch, Brust und Kopf. Wir werden zusammen gehen. Die Abstände zwischen uns werden größer und wieder kleiner werden. Im Bauch sammelt sie sie, in der Kehle spült sie sie aus. Im Kopf behält die Stimme die Worte. Ich höre sie.“ (Text: Sandra Man)  

Im zweiten Teil mit dem Titel „The Clearing“ erzeugt Moritz Majce zusammen mit den Tänzern Jorge Rodolfo De Hoyos, Samuel Draper und Mikael Marklund eine choreografische Landschaft, die sich aus intersubjektiven Beziehungen zusammensetzt und somit affektive Konstellationen in den Vordergrund stellt. Methodisch und dramaturgisch steht hier die Praxis des Relational Flows im Zentrum, anhand welcher ein multidirektionaler, partizipativer und polyzentrischer Aufführungsort generiert wird, dessen Konturen instabil sind und der sich als ein temporäres kollektives Gefüge von bewegten Körpern manifestiert. War im ersten Teil der Fokus auf die auditive Wahrnehmung gerichtet bzw. auf die Relation Text-Körper, wird im zweiten Teil der Akzent auf die Beziehung Bewegung-Körper verschoben. Neben der Präsenz von Tänzern spielen im zweiten Teil skulpturale Objekte eine entscheidende Rolle. Es handelt sich um rechteckige Rahmen aus Holz, die entweder mit künstlichem Gras und Steinen gefüllt oder als monochrome Leinwände ausgestellt und über die ganze Landschaft verteilt sind. Einerseits verweisen diese Objekte/Installationen auf die Tatsache, dass sich die Aufführung im gesamten Areal abspielt. Anderseits kann man sie aber auch als rein ästhetische Gegenstände betrachten, die, wie minimalistische Kunstwerke, leibzentrierte Wahrnehmung intensivieren. Die, wie im ersten Teil, in Weiß gekleideten Tänzer bringen mit ihren Bewegungen einen verändernden Zwischenraum hervor. Unterschiedliche Perspektiven und Blickrichtungen, die man einnehmen kann, schwanken zwischen Nähe und Ferne, womit der Ausstellungscharakter des choreografischen Materials anschaulich wird.

Im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Raummythologien (wie sie ihre Trilogie  bezeichnen), schaffen Man und Majce ästhetisch-diskursive Konstellationen, die aus pluralen performativ-narrativen Elementen zusammengesetzt sind und feste Gattungszuordnungen unterwandern. Die Objekte sowie die tanzenden/sprechenden Figuren könnten deshalb als darstellende aber auch als bildende Kunst rezipiert werden. Der Schnittpunkt bleibt jedoch immer ein zeitgewordener Raum, der in sich Spuren der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft aufeinanderschichtet. Der Begriff „Aeon“ verweist auf die geochronologischen Zeitspannen, mit denen die Erdgeschichte klassifiziert und untersucht wird. Es handelt sich um ein wissenschaftliches Konzept, mit dem die tiefsten Schichten unseres Zeit-Raum-Kontinuums beschreibbar und messbar gemacht werden. In „Aeon II“ wird allerdings die Aufmerksamkeit weg von der Vergangenheit auf die kommende Zeit verschoben. Ein Horizont des Möglichen, in dem sich leibliche Intensitäten mit visuellen Formen und Texten überlagern. Somit entfaltet sich eine spekulative Geste, die den Körper in die Zukunft bewegt, um dort nach Signaturen des Offenen zu suchen, in denen das Rettende wächst. Wie das wuchernde Unkraut aus der zerrissenen Erde.