„Stages of Crisis“, Constanza Macras | DorkyPark ©Thomas Aurin

Sich seiner selbst im Supermarkt vergewissern

Im Rahmen des Festivals Tanz im August präsentierte Constanza Macras am 13. und 14. August 2021 in den Gärten der Welt in Berlin-Marzahn „Stages of Crisis“. Nachdem die Arbeit im Mai 2021 bereits als Livestream auf dem Online-Kanal HAU4 gezeigt wurde, konnte das neue Stück ihrer Company DorkyPark nun eine Bühnenpremiere vor Publikum feiern.

Das Festival Tanz im August kann dieses Jahr dank Hybrid-Konzept vielfältige Arbeiten sowohl online als auch auf vertrauten Theaterbühnen und an verschiedenen Orten der Stadt zeigen. Von Kirchen bis Outdoor-Spielstätten, wie die sogenannte Arena in den Gärten der Welt, bieten sich noch bis zum 22. August diverse Anlässe, neue Orte des Tanzes zu entdecken. Der Aufführungsort der Arena in den Gärten der Welt ist ein architektonisch spannender Ort unter freiem Himmel, der sich als Beton-Schauplatz versucht, in die domestizierten Grünflächen der Gärten einzufügen. In diesem vielschichtigen Paradox scheinen der Ort und die künstlerische Arbeit durchaus gut zusammen zu passen.

Es war wohl der Stadtteil Marzahn selbst, welcher die aus Argentinien stammende und seit 1995 in Berlin lebende Choreografin an der Idee reizte, ihre neue Arbeit an diesem Ort zu zeigen. Mit den Plattenbauten und einer eignen „urbanen Wildheit, die nach Zukunft aussieht, aber in der Vergangenheit stecken geblieben ist“ fühlte sie sich in Marzahn wie in einem dystopischen Science-Fiction-Film der 70er-Jahre, wie wir im Festival-Magazin im Interview mit Beatrix Joyce nachlesen können. Das klingt für mich ein bisschen nach Romantisierung der Lebensrealität von ökonomisch weniger gut aufgestellten Menschen, die dort unter anderem deshalb leben, weil ihr Einkommen im Verhältnis zu den – noch niedrigen – Mietpreisen steht. Auch drängt sich mir in diesem Zusammenhang die Frage auf, wie viele Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft überhaupt zu einem Premierenevent wie diesem kommen könnten oder wollten. Spätestens auf dem Rückweg wird deutlich, dass sicherlich die wenigsten Gäste einen kurzen Anfahrtsweg hatten – mich eingeschlossen. Es ist schön, dass uns ein Festival wie Tanz im August auch an die Ränder der Stadt führt, aber vor den Lebensumständen der Menschen vor Ort weder die Augen zu verschließen noch sie zu romantisieren, finde ich wichtig.

In der farbenfrohen Produktion „Stages of Crisis“ greift Constanza Macras Motive und Gedanken aus ihrer vierstündigen Performance „Forest: The Nature of Crisis“ auf, die 2013 im Müggelwald stattgefunden hatte. Die neue Arbeit setzt die langjährige Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Carmen Mehnert fort. Auch die insgesamt zehn Tänzer*innen (Candaş Bas, Alexandra Bòdi, Emil Bordás, Chia-Ying Chiang, Rob Fordeyn, Yuya Fujinami, Johanna Lemke, Sonya Levin, Thulani Lord Mgidi, Miki Shoji), die an diesem Abend auf der Bühne stehen, wirken vertraut miteinander. Die zwei Live-Musikerinnen Almut Lustig und Kristina Lösche-Löwensen haben ebenfalls beide bereits mehrfach mit der Tabori-Preisträgerin zusammengearbeitet. Ihr beachtliches Arsenal an Musikinstrumenten am vorderen linken Bühnenrand lässt unter anderem ein Klavier, einen großen Gong, ein Schlagzeug und eine Geige sowie einen Computer für die elektronischen Klangwelten erkennen. Pointiert führt die Live-Musik durch eine wilde Mischung von Szenen und Stimmungen. Gesprochene Textpassagen werden stimmungsvoll untermalt und  die Gesangssoli der Tänzer*innen, die diverse Charthits live covern, bekommen einen musikalischen Rahmen. DorkyPark versteht sich als interdisziplinäres Ensemble, das mit Tanz, Text, Live-Musik und Film arbeitet und Macras weiß die schauspielerischen sowie teils auch stimmlichen Qualitäten der Tänzer*innen voll auszuschöpfen. Die immer wieder einfließenden Rufe und Schreie geben dem Ganzen einen weiteren akustischen Farbton auf der performativen Palette des „permanenten Ausnahmezustands“, wie die Tanzjournalistin Sandra Luzina Macras’ Inszenierungen im tanzraumberlin-Magazin von Juli/August 2021 beschreibt.

Es ist vor allem auch die Musik in ihrer unterschiedlichen und immer wieder energiegeladenen Art, die in mir Assoziationen einer Art Revue aufkommen lassen. Die Unmengen an verschiedenen Kostümen, die die Tänzer*innen im Verlauf des 90-minütigen Stücks tragen, unterstützen dieses Bild, denn von Glitzerteilen über Leopardenmuster und Badeanzügen mit Bugs Bunny-Figuren bis hin zum Tarnanzug ist alles Mögliche dabei. Eine Art Berliner Kreuzfahrt-Revue, in der mit einer gewissen Selbstverständlichkeit nicht nur nackte Darsteller*innen auf der Bühne durch das Stück führen, sondern auch ein, zunächst männlich gelesener, Mensch später im kurzen pinkfarbenen Glitzerrock knapp kommentiert, dass er*sie als Mädchen doch nicht weine.

Im Bühnenbild eines Supermarkts, welches von Nina Peller recycelt wurde und früher einmal einen Warteraum darstellte, soll diese illustre Glamourwelt auf ernsthafte Krisen des Spätkapitalismus treffen. Allerdings werden inhaltliche Narrative und Ansatzpunkte erst nach knapp einer Stunde mittels umgeschriebener Grimmscher Märchen, die von einem Jazzlehrer (Prinz), einer Pizzabäckerin (Hexe) oder einem spanischen Schneewittchen handeln, überhaupt greifbar. In den teils absurden Märchenparodien geben Werbetafeln beispielsweise der großstädtischen Version von Hänsel und Gretel Orientierung, so dass sie zurück zu ihren von Armut gezeichneten Eltern finden, die bereit waren, sie zu opfern. Dass das Kapitalozän, also das Zeitalter des Kapitalismus, zu Ende geht und nur das kollektive Zusammenarbeiten mit anderen Arten uns retten kann, erfahren wir im Kontext eines Aschenputtel-artigen Abschnitts, in dem eine Vogelschaar hilft, die Tomatensamen aus der Frucht zu picken und nebenbei, gemäß einer effizienten Verwertungslogik, die Tomaten für Pizza- oder Pastasaucen püriert.

Mittels dieser Erzählungen werden Themen wie Konsumkritik, Individualismus, Finanzkrise, Nachhaltigkeit, Natursehnsucht, Patriarchat oder globale Gerechtigkeit angeschnitten und mit vertrauten, wie absurden Bezügen zum Alltag zwischen Energiesparlampe und Datenverbrauch des Selfie-Uploads verknüpft. Das ist alles durchaus unterhaltsam und mit Sicherheit geistreichen Köpfen entsprungen, doch ob der Vielzahl der Themen, die hier angerissen werden, verbleibt es für mich in einem sehr oberflächlichen Feld. Dass die Arbeit viel mit Sarkasmus gestrickt ist, wird deutlich, wenn beispielsweise Jérôme Bels Entscheidung, für Gastspiele nicht mehr zu fliegen, aufgegriffen und belächelt wird, während gleichzeitig eine bereits erwähnte Unmenge von Kostümen nötig ist, um performativ über Nachhaltigkeit zu sprechen. Ob das Zynismus oder Paradoxie ist, kann letztlich jede*r für sich entscheiden.

An choreografischem Material, welches die zehn Tänzer*innen an diesem Abend über die Bühne rennen, springen und rollen lässt, mangelt es in jedem Falle auch nicht. Es ist eine beachtliche Vielzahl an Soli und gegen Ende auch Gruppenchoreografien, die Constanza Macras gemeinsam mit ihren Tänzer*innen geschaffen hat. Die Soli begleiten teilweise Text sowie Gesang und scheinen stets persönlich auf die jeweiligen Menschen und ihre momentanen Rollen im Stück zugeschnitten. Die Personae des Bühnengeschehens wirken ob ihrer expressiven Körperlichkeit teils orientierungslos und vom Strudel des Chaos ergriffen, doch genau diese Effekte sind präzise inszeniert, werden doch Sprünge oder Zusammenstöße zeitlich treffsicher durch Gongs betont. Das Bewegungsvokabular mit Elementen aus Breakdance, klassischem Tanz und Turnen wird oftmals deutlich als Parodie inszeniert, ist aber über die Dauer eines abendfüllenden Stücks durchaus Geschmacksache.

Ein weiteres Thema, das sich als narrativer Bogen über das Stück spannt, ist das Berliner Theatertreffen. Im englischsprachigen Stück wird es als „theatre meeting“ bezeichnet und die Performer*innen versuchen gleich zu Beginn, dieses prestigereiche Treffen in seiner Bedeutung für die deutschsprachige Theaterszene zu erklären. Vor allem aber soll uns die kritikwürdige Exklusivität und von Hierarchie geprägte Welt des Theaters beispielhaft vor Augen geführt werden. Als später in einem Nebensatz bei einem der Märchenadaptionen Könige und Intendanten in einem Atemzug genannt werden, denken sicherlich Einige im Publikum an die überfälligen strukturellen Debatten über Machtpositionen an deutschen Theatern, die in der jüngeren Vergangenheit laut worden. Völlig zu Recht.

Schade ist in diesem Kontext nur, und das Gefühl schleicht sich bezüglich der meisten dieser so wichtigen gesellschaftlichen Themen ein, die „Stages of Crisis“ verhandeln möchte, dass sie ob ihrer Vielzahl vereinfacht und trivialisiert werden. Die kurzen Anspielungen, die als eine Art Themen-dropping wirken, können wie im Falle des Theatertreffens nur von Insidern eingeordnet, also decodiert, werden. Damit wird eine gewisse Exklusivität geschaffen und diese reproduziert letztlich genau jene Art von Blase, welche die Arbeit kritisieren möchte. Oder möchte sie sich eben einfach nur darüber lustig machen?

Auch wenn Kunst durchaus einfach nur Unterhaltung sein dürfen soll, wenn sie es möchte, ist es immer ein Statement und hat einen Kontext, was wann und wo für wen gezeigt wird. Und so werde ich den Beigeschmack nicht los, dass sich hier in einem bunten intellektuellen Kosmos vor allem Wissende – gut situierte Menschen, wie ich – schmunzelnd ihrer selbst und ihres oberflächlichen kritischen Bewusstseins versichern, wenn sie die Themen decodieren und das recycelte Bühnenbild loben.


Tanz im August – 33. Internationales Festival Berlin läuft noch bis zum 22. August 2021 am HAU Hebbel am Ufer und zehn weiteren Orten in der Stadt. Hier geht es zum Festivalprogramm: https://www.tanzimaugust.de/programm/festivalplan/.