„Try Leather“, Justine A. Chambers, Margaret Dragu, William Locke Wheeler, Britta Wirthmüller ©Anja Weber

Performing Memory

Wie kann man ein Archiv performen? Wie kann ein Rechercheprozess auf der Bühne dargestellt werden, ohne dass das Ergebnis langweilig und didaktisch wirkt? Wie kann ein Tanz über eine Arbeit entwickelt werden, die vor mehr als 40 Jahren uraufgeführt wurde? In „Try Leather“ erforschen Britta Wirthmüller, William Locke Wheeler und Justine A. Chambers die politischen und performativen Aspekte des gleichnamigen Solos aus dem Jahr 1975 der kanadischen Künstlerin und Aktivistin Margaret Dragu. Wirthmüller und Wheeler wählen jeden Abend ein Dutzend verschiedener Archivaufnahmen und Schlüsselwörter aus und bieten ihre persönliche Sicht auf Dragus Arbeit und Leben in einer Performance, die Tanz, gesprochenes Wort und Audiofragmente kombiniert.

„Try Leather“ wurde am 22. Juni 2021 während des Festivals Open Spaces – Making It Happen #2 online uraufgeführt. Die zarte und doch offene Herangehensweise an Erinnerung und Archivierung inspirierte mich dazu, meine eigenen „Archivaufzeichnungen“ des schwülen Abends zu teilen, als ich die Vorpremiere von „Try Leather“ sah.


Margaret Dragu

Bevor die Aufführung beginnt, schaue ich noch schnell in das Programmheft, um ein wenig mehr über Margaret Dragu zu erfahren. Sie ist eine in Vancouver lebende Performance-Künstlerin, Stripperin und politische Aktivistin. Ihr ursprüngliches Solo „Try Leather“ wurde 1975 uraufgeführt und war eine gelungene Mischung aus Strippen, modernem Tanz und politischem Aktivismus. Nach jahrelangen Rechtsstreitigkeiten gründete Dragu die erste Gewerkschaft für Stripperinnen, die Canadian Association for Burlesque Entertainers. Da Dragu aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Berlin reisen konnte, um an dieser neuen Performance, die auf ihrer Arbeit basiert, teilzunehmen, erscheint nur ihre Stimme in kurzen Audio-Einlagen. Der Rest der Geschichte wird von Wirthmüller und Wheeler erzählt – aber auch getanzt.

Banner und Stimmen

Die Spielregeln werden gleich zu Beginn offengelegt: Das Bühnenbild besteht aus einer großen Wand aus halbtransparenten Bannern mit Stichworten aus einem Archiv, das Wirthmüller und Dragu während ihrer Recherchezeit vorbereitet hatten. Unter der Leitung von Kasia Wolińska wählt die Kompanie hinter den Bannern gemeinsam ein Dutzend dieser scheinbar zufällig aus (diesmal haben sie sich für „ihre Favoriten“ entschieden), um diese Archivalien aufzuführen. Jeden Abend zeigen sie etwas anderes, und die Dramaturgie wird immer erst an Ort und Stelle entschieden. Die Performer*innen diskutieren auf der Bühne ausgiebig darüber, tauschen Witze aus und bitten Wolińska gegen Ende der Show, das Licht zu dimmen, worauf sie antwortet, sie hätten nur noch acht Minuten zu spielen, weil dem Publikum „der Sauerstoff fehle“. Ich habe selten eine Tanzaufführung gesehen, die so offen über ihre innere Struktur und ihre Rechercheprozesse spricht. Wirthmüller erzählt, wie sie Margaret Dragu kennenlernte, mit dem Fahrrad zu ihr fuhr und gemeinsam mit ihr Tee trank. Dragus Stimme unterbricht sogar die Show, um den Kontext von „Try Leather“ zu erklären und ihre Ansichten über Performance-Politik und Strippen zu teilen.

Stuhltanz und Ballontanz

Die Arbeit basiert allerdings nicht nur auf Textmaterial. Beide Tänzer*innen führen kurze Variationen und Fragmente aus Dragus Solo auf. Wirthmüller zeigt einen „Stuhltanz“, der mit seinen angedeuteten Kniebewegungen, schnellen Drehungen zur Seite und kurzen Armstreckungen deutlich an das Vokabular des Stripdance angelehnt ist. Gemeinsam mit Wheeler erfinden sie auch die Marschsequenz und den „Ballontanz“ aus Dragus Originalwerk neu, bei dem sie an Hüfte und Mund befestigte Luftballons tragen. Auch wenn diese kurzen Tanzeinlagen vielleicht etwas zu methodisch wirken sollten, erreicht das Werk seinen emotionalen Höhepunkt während der „Traumsequenz“, in der sich Dragu, interpretiert von Wheeler, im Kreis dreht, während sie die Namen von geliebten Menschen ruft, die sie verloren hat, Ex-Liebhaber*innen, Freunde und Familienmitglieder. Aber selbst hier, inmitten der großen Emotionen, verliert die Performance nicht ihr Ziel aus den Augen, Dragus Arbeit zu präsentieren, denn alle Tanzsequenzen werden weiterhin von den Darsteller*innen oder Dragu selbst eingeleitet oder kommentiert.

In Erinnerungen schwelgend

Alle Elemente von „Try Leather“ sind durch eine Reihe von Referenzen und nahtlosen Übergängen geschickt zusammengeführt. Wirthmüller trägt Nippelpasties und einen durchsichtigen Rock als Reminiszenz an Dragus Vergangenheit als Stripperin, und die Musikauswahl umfasst Elvis Presleys „Are You Lonesome Tonight?“, das in einer von Dragus Tonaufnahmen erwähnt wird. Sogar ein alter Fernsehbildschirm, das Geräusch einer Schreibmaschine und das pastell-beige Lichtdesign tragen zu einem allgemeinen Nostalgiegefühl der Performance bei. Wenn die Lichter ausgehen, sieht das Publikum schließlich fluoreszierende Fäden, die die Banner miteinander verbinden, und ich kann nicht anders, als an all die Geschichten zu denken, die unerzählt bleiben, aber wahrscheinlich bei anderen Aufführungen von ‚Try Leather‘ erzählt wurden. Auch wenn man vielleicht gedacht hat, dass ein so tiefer und detaillierter Einblick in Margaret Dragus Leben und Karriere für ein nicht fachkundiges Publikum nur von begrenztem Interesse sein könnte, beweist diese kluge und nostalgische Show, dass die Aufführung eines Archivs auf einer Theaterbühne ein spannendes Abenteuer sein kann. Wirthmüller und Wheeler setzen eine ganze Reihe von Taktiken ein, um die harte Arbeit hinter der Konzeption der Show zu beleuchten, und das Ergebnis ist ein seltenes Vergnügen.

Deutsche Übersetzung von Alex Piasente


Das Video von “Try Leather“ von Justine A. Chambers, Margaret Dragu, William Locke Wheeler, Britta Wirthmüller ist noch bis heute Abend, 27.06.2021 um 23 Uhr kostenlos auf der Webseite der Tanzfabrik Berlin verfügbar.


Credits:

Konzept, Choreografie: Justine A. Chambers, Margaret Dragu, William Locke Wheeler, Britta Wirthmüller | Tanz: Justine A. Chambers, Margaret Dragu, William Locke Wheeler, Britta Wirthmüller, Kasia Wolińska | Bühnenbild: William Locke Wheeler | Outside Eye: Kasia Wolińska | Sounddesign, Technische Leitung: Nikola Pieper | Video: Walter Bickmann/Tanzforum Berlin | Produktionsleitung: Dino Spiri | Öffentlichkeitsarbeit: Denhart van Harling | Grafikdesign: Carsten Stabenow, Milchhof Atelier | Fotos: Anja Weber.