Filmstill: Alice Renavand in „Mars & Venus- Phases d’opposition“ (2016), Julien Audebert

Durch Bildschirme läuft eine andere Art der kinästhetischen Empathie

In den Zeiten von Corona, in denen Live-Veranstaltungen für Tanz (noch) nicht möglich sind, bleiben die digitalen Formate. Man kann es mögen oder nicht, und nicht alles ist geeignet, um verfilmt zu werden. Es gibt aber Tanzfilme, Filme die explizit für Kamera und Bildschirm choreographiert sind: noch bis 6. Mai zu sehen in der POOL 20 – Spring Edition des Internationalen TanzFilmFestivals Berlin im DOCK 11 online.

Die Kultur ist stark betroffen von der Corona-Situation und im Besonderen die darstellenden Künste. Neben der breiten Auswahl an online verfügbaren Tanz-Klassen, über die Jette Büchsenschütz schon berichtet hat, haben sich die Ausstrahlungen von Theater- und Tanzproduktionen mit der Schliessung der Aufführungsorte multipliziert. Besonders große Häuser bieten Teile ihrer früheren Produktionen an, was umstritten ist, wenn man die rechtliche Lage genau betrachten würde.[1] Man kann es mögen oder nicht, und nicht alles ist geeignet, um verfilmt zu werden. Die Körperlichkeit einiger zeitgenössischer Tanzproduktionen wird meiner Meinung nach zu stark verflacht, aber zum Beispiel die Verfilmungen von Opern oder klassischem Ballett kann man sich wie einen Film anschauen (und vielleicht damit neues Publikum erreichen, das sich sonst den Besuch von Opernhäusern nicht leisten kann). Und dann gibt es Tanzfilme oder Filme, die nuanciert für Kamera und Bildschirm choreographiert sind. 

Die Frühlings-Edition von POOL – Internationales TanzFilmFestival Berlin vom 16. April bis 6. Mai 2020 ist genau der richtige Ausweg, um – weg von Theater- und Tanzverfilmung oder den schnellen selbst gedrehten Videos, die jetzt auf allen möglichen Plattformen entstehen – trotzdem kinästhetische Empathie erleben zu können.[2] Als Fortsetzung eines seit 2007 bestehenden regelmässigen Treffens für Tanzfilm-Interessierte soll uns eine Selektion von Filmen der letzten Jahre drei Wochen lang auf die diesjährige Festival-Edition im September einstimmen. Jeden Donnerstag um 19 Uhr wird das Programm der neuen Woche im DOCK 11 online freigeschaltet und steht für sieben Tage zur Verfügung. 

Die erste Woche beinhaltet elf Stücke ganz verschiedener Handschriften, Visionen und Sensibilität.[3] Es ist eine Reise um die Welt, die auf einer Landstraße durch die mexikanische Wüste mit „Werewolf Heart“ (2016) von Christian Weber und Dalel Bacre beginnt, auf der eine geheimnisvolle Dame (Bacre) gegen ihre inneren Dämonen kämpft, und über die schwarz-weißen Schatten einer brasilianischen Wohnung in „Apartment 502“ (2017) von und mit Daniele Caetano de Moura und Natasha Vergilio als verliebtes Paar weiterläuft, und die Wälder Polens mit der Science-Fiktion-trifft-Quantenphysik-Produktion „Space Nothing More“ (2015) von Nikodem Wojciechowski, in der uns die Bewegungen der drei Tänzer dazu bringen, über Mikro- und Makrokosmos nachzudenken. Unbestimmt im Setting sind der posturbane Rohbeton-Raum in „Bandaloop“ (2019) von Johan Planefeldt, in dem sich zwei besessene Tänzer Musikvideo-artig bewegen, und der vom Vollmond beleuchtete Garten in „Jesus Tiger“ (2014), von The House of ia, in dem eine gespensterähnliche Figur mit Tiger-Maske das Rituelle des Alltags erkundet.

In „Snippet“ (2019) von Berit Einemo Frøysland und Anna Einemo Frøysland und in „Molino“ (2017) von Jonathan Sanchez stehen die Nahaufnahmen im Vordergrund. In „Snippet“ weisen die abgehackten Gesten zweier Frauen, die den Augenkontakt meiden, trotz der Geselligkeit suggerierenden Hintergrundgeräusche auf Einsamkeit hin, während in „Molino“ verschiedene Bekleidungstexturen – zunächst langhaariges Fell, dann Federn, ein Metall-Gesichtschmuck und schließlich ein schwarz bemaltes bärtiges Gesicht – langsam eine Person verraten.

Spannend sind die nahen Sequenzen von „Maktub“ (2012) von Rain Kencana, in dem ein Paar in einer umfunktionierten gründerzeitlichen Badenanstalt Hip-Hop, Flamenco und Zeybek Tanz mischt, um über Beziehungen zu sprechen. Ebenso reizvoll ist die Idee hinter „Mars & Venus: Phases d’opposition“ (2016) von Julien Audebert, eine Visualisierung der Umlaufbahnen der Planeten Mars (die Kamera) und Venus (die Primaballerina der Pariser Oper Alice Renavand). Etwas unter dem Einfluss des magischen Realismus steht Billy Cowies und Gabriela Alcofras „Tango Brazil“ (2014), der ein Spiel mit echt und unecht betreibt, indem er zeitgenossische Figuren in einen Film aus den 1930er-Jahren über das Alltagleben in Brasilien setzt. Beindruckend sind die Drohnen-Perspektiven von „The Shadow Drone Project“ (2018) von Charles Linehan. In seinen Bildern werden Menschen, Tiere und Natur Teil einer choreographischen Geste.

Selbstverständlich fallen beim häuslichen Zuschauen einige Rituale weg, wie der Gang in den Projektionssaal, die große Leinwand und der Austausch mit anderen Leuten nach der Vorstellung. Zudem hat man zu Hause die Möglichkeit, alles auf einmal zu schauen oder mehrere Pausen einzufügen (überspringen oder vorwärts spulen sollte man auch zu Hause nicht), aber eine Spannung, eine kinästhetische Empathie konnte sich doch in mir bilden. Es ist eine andere Art des Erlebens als das Anschauen von zeitgenössischem Tanz in Live-Aufführungen, aber sie hat mich trotzdem in meine Leiblichkeit zurückgebracht und nicht von ihr weg, wie bei vielen Verfilmungen, die fast antiseptisch wirken. 

Tanzfilm oder Screendance ist eine selbständige Gattung, die mit Tanz mehr oder weniger zu tun haben kann. Jedes Medium hat seine eigene Ästhetik und Regeln, wie viele in diesen Wochen der erzwungenen Digitalisierung bemerkt haben werden. Für einige kann das einengend wirken, für andere kann das befreiend sein.


Zum Online-Stream von POOL 20 – Spring Edition Internationales TanzFilmFestival Berlin. Noch zu sehen: Filmreihe Woche 2 vom 23. bis 29. April 2020, Filmreihe Woche 3 vom 30. April bis 6. Mai 2020.


[1] Rolf Bolwin, 26. März 2020 “Theater und Streaming, eine praktische und rechtliche Betrachtung” in Standpunkt Kultur.

[2] Karen Wood, 2016 “Kinestehtic Empathy: Conditions for Viewing” in Douglas Rosenberg (Hg.) The Oxford Handbook of Screendance Studies, Oxford, New York: Oxford University Press: 245 – 61.

[3] Filmreihe Woche 1 vom 16. bis 22. April 2020, Line-Up:

WEREWOLF HEART | Christian Weber & Dalel Bacre | USA, Mexico 2016 | 00:04:00
APARTMENT 502 | Daniele Caetano de Moura & Natasha Vergilio | Brazil 2017 | 00:01:26
DON‘T MISS IT | Teddy Tedholm | USA 2018 | 00:04:58
MAKTUB | Rain Kencana | Germany 2012 | 00:03:15
THE SHADOW DRONE PROJECT | Charles Linehan | UK, Lithuiana 2018 | 00:09:45
SNIPPET | Berit Einemo Frøysland & Anna Einemo Frøysland | Germany 2019 | 00:00:43
MOLIMO | Jonathan Sanchez | Germany 2017 | 00:01:26
BANDALOOP | Johan Planefeldt | Germany 2019 | 00:02:20
SPACE NOTHING MORE | Nikodem Wojciechowski | Poland, 2015 | 00:21:00
TANGO BRAZIL | Gabriela Alcofra & Billy Cowie | UK 2014 | 00:03:00
JESUS TIGER | The House of ia | USA 2014 | 00:07:29
MARS & VENUS, PHASES D’OPPOSITION | Julien Audebert | France 2016 | 00:10:16