Body-Mind Centering Online-Stunde der Tanzfabrik Berlin mit Nina Wehnert, Bildschirmfoto ©Büchsenschütz

Distanz Tanz

Das breite Angebot an Online-Tanzklassen zeigt uns, wie wir trotz sozialer Distanzierung jede*r für sich allein im Tanz miteinander verbunden bleiben können. Über das komplizierte Zusammenspiel von Nähe und Distanz in Corona-Zeiten.

Ich sitze auf der Yogamatte allein in meinem Wohnzimmer in Düsseldorf, wo ich mich seit Mitte März aufhalte. Auf dem Bildschirm meines Laptops sehe ich rund achtzig Personen, live in ihren Schlaf- und Esszimmern, in ihren Küchen und auf ihren Terrassen. Nichts Ungewohntes passiert hier: Teilnehmer*innen dehnen sich, sitzen ruhend im Schneidersitz, unterhalten sich – Dinge, die man tut, wenn man auf den Beginn einer Klasse wartet. Manche Teilnehmer*innen begrüßen sich, ich sehe Mütter mit ihren Kindern und entdecke eine Freundin aus Wien.

Im Mittelpunkt dieser ersten Body-Mind Centering (BMC®) Online-Stunde, die die Tanzfabrik Berlin nach der verordneten Schließung der Studios anbietet, steht nicht zufällig die Lunge: „Bei der Auswahl der Lunge als Thema für die erste Stunde war ich hin- und hergerissen“, erzählt mir Nina Wehnert, die BMC-Lehrerin, später. „Ich bin mir sicher, dass es im Moment sehr wichtig ist, die Lunge so zu spüren wie sie jetzt ist. Ich bin davon ausgegangen, dass die meisten Teilnehmenden eine nicht infizierte Lunge haben und gesund sind und es wohltuend sein könnte, die eigene gesunde Lunge zu spüren. Ich hatte aber gleichzeitig auch Bedenken, dass ich genau da hineintappe, wo gerade sehr viel Angst liegt – nämlich die Angst davor, dass die eigene Lunge infiziert sein könnte.“

Also atme ich tief ein und langsam wieder aus. Meine Hände umfassen meinen Brustkorb, sodass ich spüre wie er sich hebt und senkt, wie er sich ausbreitet – mehr Platz im Raum beansprucht – und wieder zusammenzieht. Wie stark vergrößern sich die beiden Lungenflügel beim Einatmen? Wie viel Raum nehmen sie in meinem Brustkorb ein? Ich spüre wie jeder Atemzug meinen Körper in Bewegung versetzt, wie sich Bewegung von meinen Lungenspitzen aus in meinen Körper fortsetzt. Und es gelingt mir im Laufe dieser Stunde ihre Ausdehnung in meinem Körper bis in den Raum hinein zu spüren. Immer wieder ermahnt uns Nina, unserer raumfordernden Dreidimensionalität bewusst zu bleiben, sie zu spüren. „Es geht bei BMC darum, sich auf die Eigenintelligenz des Körpers zu verlassen und sich ihr hinzugeben. Es geht darum, eine Wertschätzung des Körpers zu stärken. Gerade angesichts all der Ängste, mit denen wir jetzt konfrontiert werden, scheint es mir wichtig, uns in dieser Unsicherheit wieder zu spüren und uns unserer Dreidimensionalität bewusst zu sein.“ Wie schnell wir die doch vergessen, während wir ständig auf einen flachen Bildschirm und auf zweidimensionale Körpervorderseiten starren – ja, wir haben immer noch einen Rücken! 

Die Tanzfabrik, das DOCK 11, das Marameo, die Somatische Akademie Berlin und viele andere Tanz-und Bewegungsschulen haben sofort auf das kürzlich eingeführte Kontaktverbot reagiert und ihr Angebot auf Online-Klassen umgestellt. Ein Experiment, denn statt physischer Anwesenheit in einem Studio ist nur eine Mail, der Download von Zoom und ein mehr oder weniger ungestörter Ort in den eigenen vier Wänden vorausgesetzt. Die Bezahlung funktioniert (hoffentlich) auf Spendenbasis.

Aber welche Folgen ergeben sich aus dieser Verschränkung von digitaler Technologie mit kinästhetischer Erfahrung? Könnte Tanz – einschließlich der unterschiedlichen Körpertechniken, den Somatics – „the kind of medicine our bodies need“ sein, wie die Tanzkritikerin Gia Kourlas in der New York Times[1] ganz aktuell bezogen auf das Distanzierungsgebot hofft? Und allgemeiner gefragt: Können reale Körper in einem technisch vermittelten, nur virtuell konstruierten gemeinsamen Raum, körperlich-sinnlich miteinander kommunizieren? 

Nina Wehnert teilt den in den Fragen mitschwingenden Zweifel: „Eine Schwierigkeit mit BMC sehe ich darin, dass in den BMC-Klassen sehr viel im Nonverbalen und in dem – ein typischer Begriff aus dem BMC –‚Mind of the Room‘, also durch die Qualität des Raumes, transportiert wird. Wenn ich in einer bestimmten Stimmung bin und mich mit meinen Organen bewege, dann bewege ich mich in einer bestimmten Qualität, die ich verbal nicht unbedingt benennen kann, aber die von den anderen Menschen im Raum gespürt werden kann. Darüber transportiert sich etwas auf einer Ebene, die direkt in den Körper geht. So bekomme ich auch mit, was meine Schüler*innen machen. Ich kann schauen, wie sie sich bewegen, aber ich kann vor allem spüren, welche Stimmung gerade im Raum ist. Genau diese Ebene fehlt jetzt.“ 

Dieses Fehlende müssen wir akzeptieren, wenn wir uns zwar live aber in getrennten Räumen treffen, die nur mithilfe eines Softwareprogramms synchronisiert werden. Dieser riesige virtuelle Raum – in der zweiten BMC-Stunde waren wir 100 Teilnehmer*innen aus den verschiedensten Ländern, bei einer Gaga-Klasse aus Tel Aviv über 400 – provoziert und strapaziert unser Vorstellungsvermögen. Er lenkt uns ab und überfordert uns gleichzeitig. Nina Wehnert kommentiert: „Ich hatte das Gefühl, dass ich viel mehr verbal anleiten muss. Im Studio transportiere ich viel mehr durch meinen eigenen Körper und über meine Bewegungen, etwas was ich nun nur über den Bildschirm vermitteln muss. Aber das, was die Teilnehmenden auf dem Bildschirm sehen, ist nicht so aussagekräftig wie die gemeinsame Präsenz im Raum.“

Unter den Bedingungen der Corona-Pandemie verquert sich das Verhältnis von Nähe und Distanz auf eine ungewohnte Art und Weise. Distanz soll nicht mehr – negativ konnotiert – Berührungslosigkeit und gar Abwesenheit bedeuten, sondern, in eine Form von virtueller Empathie und virtueller Intimität transponiert, die Lücke zum anderen (und zu uns selbst) überbrücken helfen – das Abwesende zur Anwesenheit bringen. Das Internet kann die räumlich-soziale Distanz überbrücken, die leibliche wohl kaum – bleibt mir deshalb nur der Versuch, die Distanz zu meinem eigenen Körper aufzulösen? Also mache ich Gaga. 

„Listen to your body before telling it what to do“ – darum geht es in Gaga und in der halbstündigen Session, die jeden Tag von der Gaga Community in Berlin angeboten wird. Eine der entscheidenden  und schönsten Qualitäten im Gaga ist die Empfindung von Flow: „The bones are floating inside the water of your body. Connect to the floating quality of your ribs“, fordert uns Alvin Collantes, einer der Gaga-Lehrer aus Berlin auf. Als ob wir im Wasser schweben – oder wie Alvin es ausdrückt, in Öl oder Butter gleiten – bewegen wir Teilnehmer*innen uns in einem fort, ohne in der halben Stunde auch nur ein einziges Mal stillzustehen. Ein Gefühl von Offenheit, auch zum Außenraum, beinahe ein Auflösen von Grenzen, Strukturen und Formen breitet sich in meinem Körper aus. Mein Ich verschmilzt mit einer immersiv gewordenen Landschaft aus Öl, Butter, Wasser, Knochen, Faszien und Muskelmasse. „Gaga is always about being physically present together and being aware and sensitive together. It is a body language that involves physical bodies being together. That moment when you come together in a group, feeding each other information, sharing, sending and receiving information of how the body can become even more available.“ Allerdings schränkt er dieses Praktizieren von togetherness in Online-Klassen gleich wieder ein. „This is something you cannot achieve staying in your house. Gaga is a lot about sensing what and who is around you and how our bodies change by seeing what is in front and what is around you. Something that is not possible when teaching online.“ Trotzdem: „But beside that there are other parts of the movement language that allows you to connect to your body – the pleasure, the letting go, the passion to move, the ability to become delicate.“

Und es funktioniert: Auch trotz der abwesenden körperlichen Präsenz der anderen Teilnehmer*innen spüre ich so viel positive Energie durch meinen Körper rauschen, dass ich für einen Moment vergesse, allein zuhause zu tanzen. „I really believe in energy“, sagt mir Alvin Collantes. Die simulierte Anwesenheit der anderen überbrückt die reale Distanz. Meine fleischige und ihre virtuelle Materialität gehen ineinander über.


[1] New York Times, Critic’s Notebook, Gia Kourlas: „How We Use Our Bodies to Navigate a Pandemic“, 31. März 2020.