„This Book is Yours – Recipes for artistic collaboration“, edited by Sally de Kunst et al. ©SallyDeKunst

Über Gastfreundschaft, Kollaborationen und Esskultur: Fragen an Sally De Kunst zum Buch „This Book is Yours“

Am 21. März 2020 hätte Sally De Kunst das Buch „This Book is Yours – Recipes for Artistic Collaboration“ im Berliner Büro des Vexer Verlags mit einem Koch-Workshop vorstellen sollen. Wie vieles in Berlin und weltweit konnte diese Veranstaltung – eine Zusammenarbeit mit dem Tanzbüro Berlin – nicht stattfinden. So habe ich Sally De Kunst aufgefordert, ein paar Fragen über dieses ungewöhnliche Rezeptbuch zum Kochen und für künstlerische Kollaborationen per Skype zu beantworten. Ich fand es besonders passend zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem wir viel Zeit zu Hause – wahrscheinlich auch beim Kochen – verbringen und uns in der Isolation mehr und mehr bewusst wird, wie sehr unsere Lebensweise auf Kollaborationen beruht.

„This Book is Yours – Recipes for Artistic Collaboration“ ist ein Handbuch für künstlerische Kollaborationen, und umfasst einen Zeitraum von vier Jahren der Arc artist residency in Romainmôtier, in der französischen Schweiz. Untergebracht in einer ehemaligen Pilgerherberge des Klosters, das im Schweizerischen Verzeichnis der Kulturgüter steht, war die Künstlerresidenz eine Institution von Migros-Kulturprozent und zwischen 1997 und 2018 aktiv. Das Buch ist weder eine Retrospektive noch eine Dokumentation über die Aktivitäten der Künstlerresidenz, sondern ein Werkzeug und eine Inspiration, um die eigene Praxis neu zu denken. 

Sally De Kunst hat die Residenz von September 2014 bis Dezember 2018 geleitet, neu gedacht und innovativ gestaltet. Zuvor war sie unter anderem als Leiterin des Festivals für zeitgenössische Künste Belluard Bollwerk International in Fribourg, Schweiz tätig.

In der Einleitung erklären Sie kurz, wie das Buch entstanden ist. Könnten Sie uns erzählen, wann Sie bemerkt haben, dass es diese Form (Kochrezepte und Rezepte für Kollaboration) haben würde? Kurz: Kamen die Rezepte zuerst oder die Auseinandersetzung?

Sally De Kunst: Ursprungsidee war es, ein Buch über die Erfahrungen am Arc zusammenzustellen. Wir wollten eine andere Art von Kunstbuch schaffen. Wir wollten unser Wissen teilen, das wir mit dem Umgang und der Kollaboration mit mehr als 300 Menschen über vier Jahre gesammelt haben – zusammen mit unseren persönlichen und künstlerischen Erfahrungen am Arc. Wir haben am Arc mit verschiedenen Themen gearbeitet und mit ganz vielen Tools und Strategien experimentiert, und das wollten wir unbedingt weitergeben. Das Buch wurde noch wichtiger, als wir erfahren haben, dass die Residenz im Dezember 2018 enden würde. Das Buch ist eine Spur, die dem nachgeht, was da passiert ist. 

Die Küche als demokratischen Ort des Zusammenkommens empfanden wir als besonders einflussreich. Wir haben dort zusammen gekocht und gegessen, haben Gespräche geführt und uns informell ausgetauscht. Wir haben die Form eines Kochbuches benutzt: als Leser*in kann man auswählen, welche Rezepte man am interessantesten findet, man kann sich das Buch aneignen. Wie jedes Kochbuch, in dem Änderungen im Text eingetragen sind, weil der Kuchen für unseren Geschmack zu süß war, dem man ein anderes Rezept auf einem losen Blatt zugesteckt hat, oder in dem beim Kochen Tomatensauce gelandet ist. Aus einem seriellen Buch soll ein individuelles Objekt werden, an das man sich immer wieder wenden kann.

Wie spiegeln sich Ihre eigenen Arbeitserfahrungen und -formen in dem Buch wider, zum Beispiel Ihre Leitung der Residenz Arc in Romainmôtier? Was konnten so ein Residenzformat und diese Arbeitsweise für Künstler*innen bedeuten? 

Als ich nach Romainmôiter kam, um die Residenz Arc zu führen, war ich auf der Suche nach einem richtigen Format für die Künstlerresidenz und nach einer Antwort auf die Frage „Was ist ein Kunstinstitut in der Schweiz im Jahr 2014?“. Ich habe mir die Meinung mehrerer Künstler*innen eingeholt, um besser zu verstehen, wie eine Residenz sie optimal unterstützen könnte. Jedes Jahr haben wir hinterfragt, was funktioniert hat und was nicht, und darauf haben wir weiter aufgebaut, experimentiert und recherchiert. Am allerwichtigsten für die Künstler*innen war es, einen Ort zu haben, an dem man forschen kann und in Austausch kommt – also an dem man nicht ganz unabhängig und isoliert ist – aber auch nicht unter Stress steht, etwas produzieren zu müssen. Also ein Ort, an dem man recherchieren kann, sich mit Expert*innen austauschen kann, und kein Resultat gefordert wird. Wir haben mit ganz vielen Ideen und Formaten gespielt und freuen uns, dieses kulinarische und künstlerische Wissen jetzt zu teilen. 

Das Buch ist auch eine Kollaboration: konnten Sie Ideen und Methoden benutzen, die im Buch beschrieben werden? Läuft Kollaboration im Studio anders als auf Papier? 

Das Buch ist erstmal als Metaebene des Zusammenforschens gedacht, aber gleichzeitig ist es auch eine Kollaboration. Die fünf Leute, die ich eingeladen habe, um zusammen die Redaktion des Buches durchzuführen, haben alle an unterschiedlichen Projekten am Arc mitgearbeitet, und sie kommen aus einer breiten Palette von Richtungen: Anthropologie, Kunst, Bakterien- und Pflanzen-Forschung, Zeichnen, Kuratieren, Choreographie und Philosophie. Zu sechst saßen wir mehrere Tage, über mehrere Wochen zusammen. Wir haben uns die Chronologie des Arc auf den Boden des Arbeitsraums ausgelegt: die Projekte, die öffentlichen Veranstaltungen, die Themen, das Wissen, und auch welche Rezepte wir damals gekocht haben. Etwa 40 andere Leuten haben Beiträge geschrieben. So ist das Buch langsam zustande gekommen. Dafür waren unsere gemeinsamen Erfahrungen mit dem Vokabular, den Tools und den Projekten des Arc sehr hilfreich. 

Wie sind die Themen entstanden? Und kamen sie sofort in Verbindung mit einem Rezept? Was macht eine Erbsensuppe besonders passend zu Informal Sharing?

Die Themen kommen aus diesem Überblick auf das Ganze, was gemacht und geforscht wurde während einer Residenz. Die Dramaturgie des Buches ist im Moment des Rückblickes entstanden. Die Rezepte sind dieselben, die bei bestimmten Veranstaltungen auch gekocht worden sind. Zum Beispiel: beim Informal Sharing, zu dem auch die Leute der Region eingeladen waren, haben wir immer Suppe gekocht. Die Brennnessel-Suppe vom Kapitel ‚Commoning’ ist entstanden, weil wir während des gemeinsamen Bauens des ‚Keyhole Garden’ (Permakultur-Garten) auch welche gekocht haben. Ich habe immer die Künstler*innen selber am Bahnhof abgeholt und am ersten Abend einfache Rezepte wie die Pasta alla Norma gekocht, bei der man während des Kochens geredet und einen Aperitif getrunken hat. 


Kapitel 1 Fermentation (links), Kapitel 8 Celebrating Differences (rechts). „This Book is Yours – Recipes for Artistic Collaboration“, Zeichnungen von Julien Babel.


Welches ist Ihr Lieblingsrezept und welchen Aufsatz finden Sie besonders wichtig?

Ich habe kein Lieblingsrezept, Aufsatz oder Thema. Ich finde, sie gehören alle zur Dramaturgie dieses Buches. Ein Essay, das vielleicht das ganze zusammenfassen kann, ist das über Fermentation im übertragenen Sinn, in Kapitel 1, und ist inspiriert von der allerersten Residenz, als ich sieben Künstler*innen eingeladen hatte, um gemeinsam die Residenz neu zu denken.

Und welches Thema passt besonders gut zum Tanz oder choreografischem Denken?

Generell sind alle Themen wichtig und könnten bei Tanz oder choreografischem Denken helfen, aber in den Kapiteln 9 und 15 unter „Re-position your practice“ gibt es besonders praktische Tools wie Feedback, Austausch in Gruppen und generelle Zusammenarbeit, die sofort angewendet werden können. Das könnte ich mir als hilfreich vorstellen. 

Zwei Titel haben besonders meine Neugier geweckt: “A Guest + A Host = A Ghost” und “Pizza Portrait”, können Sie mehr darüber sagen?

Der erste Text handelt vom Schlüsselbegriff der Künstlerresidenz: ‚Hospitality’, Gastfreundschaft. Der Titel ist ein Wortspiel Marcel Duchamps für seine Gäste in einer Pariser Ausstellung 1953. Die Etymologie der Wörter ‚Guest’ und ‚Host’ ist dieselbe, und dadurch entsteht eine interessante Ambivalenz. Unsere Gäste wurden auch zu Gastgeber*innen, wenn sie selber Gäste gehabt haben, oder weil wir Gastgeber*innen manchmal zu Gästen geworden sind. Das Wortspiel beinhaltet diese Dualität und der ‚Ghost’, das Gespenst, ist die Interaktion, die man hat. Dazu muss man auch sagen, dass wir einen ‚Ghost in residence’, Marguérite, im Gebäude des Arc hatten (die wir aber nie gesehen haben).

„Pizza Portrait“ ist ein Rezept von Giacomo Cardoni. Aber es gibt auch ein zweites Pizzarezept, von Lavinia Raccanello im Buch, weil es interessant war zu sehen, wie die Künstler*innen mit dem gleichen Gericht umgegangen sind. Giacomo hat eine Art Workshop über Pizza gemacht, und bei Lavinia war das Vorbereiten des Teiges am wichtigsten. Die beiden Rezepte sind für uns eine Metapher für verschiedene künstlerische Arbeitsweisen.

Der Titel des Buches “This Book is Yours” will eine Aufforderung sein, zu handeln. In dieser seltsamen pandemischen Zeit, was meinen Sie wäre etwas, das wir von diesem Buch lernen könnten?

Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, aber ich kann mir vorstellen, dass eine gute Ernährung helfen kann – und im Buch sind einige leckere Rezepte zum Kochen, aber auch seelische Nahrung. Wir hatten ein Format, das hieß ‚Walk and Talk’ und es bestand aus Spaziergängen zu zweit, bei denen man etwas diskutiert hat. Besonders beim Spazieren kommen neue Ideen auf und hat man einen anderen diskursiven Austausch. So lange Spaziergänge, allein oder zu zweit mit einer*m guten Gesprächspartner*in – mit Abstand, könnten jetzt hilfreich sein.

Das Buch ist sprachlich sehr reich, es ist eine Reise zwischen mehreren Sprachen, hauptsächlich Englisch und Französisch? Gib es eine Übersetzung auf Englisch? Wieso diese zwei Sprachen? Deutsch, die Hauptsprache der Schweiz, ist nicht dabei.

Alle Texte und Rezepte sind auf Französisch und Englisch übersetzt. Im ersten Teil stehen die Texte in der Originalsprache, und im zweiten Teil sind die Übersetzungen. Französisch ist selbstverständlich die Sprache der Region und Englisch kam dazu, weil unsere Gäste aus allen Ecken der Schweiz, aber auch anderen Ländern kamen, und Englisch wurde so einfach zur gemeinsamen Sprache.


Um einen Blick in das Buch zu werfen: thisbookisyours.com