„Sissy Symmetrie“, Yaron Maiim © Alexandra Hennig

Codex rescriptus

Einblicke in Arbeiten aus der Schreibwerkstatt des A.PART-Festivals sollten schon länger auf tanzschreiber erscheinen, angesichts des durch SARS-CoV-2 eingestellten Spielbetriebs werden die Texte nun in loser Reihenfolge veröffentlicht. Im zweiten Teil palimpsestieren Janine Muckermann und Katharina Scheidtmann zu dem Stück „Sissy Syemmetrie“ von Yaron Maiim am 23./24. Mai 2019.

Die zwei Autorinnen schrieben nach der Performance ihre Gedanken auf und erstellten einen assoziativen Text anhand der eigenen Notizen oder übernahmen diese ungefiltert. Danach fügte eine die Texte zusammen. Im letzten Schritt wurde der entstandene Text noch ein zweites Mal ‘hin und her’ gereicht und durch die andere redigiert und gegebenenfalls mit einem abschließenden Text versehen. Der nachträglich hinzugefügte Text ist kursiviert.

Katharina: Ich betrete den Hof der Uferstudios und finde in der Mitte des Hofes eine bunte Insel, um die ein paar neugierige Zuschauende stehen. Die Performance ist schon im Gange. Als ich näher herantrete, nehme ich einen chorischen weiblichen Gesang war. Yaron Maiim liegt unter einem Segel, welches zwischen Gerüst und ein paar eisernen Stangen gespannt und bunt bemalt ist. Liegend entstehen räkelnde wiederholende Bewegungen in einer zusammen gekrümmten Seitenlage auf einem Stück Plane (wie das Segel, nur kleiner), auf dem sich bereits einige gemalte Formen und Zeichnungen befinden.

Janine: Kreise und Striche, Ratschen und Kratzen, Klicken und Knicken. Grün, Lila, Pink, Blau, Gelb. Die Geräusche, die durch das Zeichnen, das Bewegen der großen breiten Filzstift-Minen über das große weiße Papier entstehen, sind spannend. Yaron Maiim bringt den eigenen Körper ein in die Zeichnung. Yaron Maiim ist die Zeichnung?

Katharina: Maiim steht auf und streift die Jacke ab. Ist die Performance vorbei? Nein. Maiim geht zum Mikrofon, neben dem Mischpult und raschelt mit den Filzstiften, um neue Geräusche aufzunehmen. Loopstation. Coole Idee! Ich mag Loopstations – so einfach und so effektvoll.

Janine: Maiim zeichnet den eigenen Körper, auf dem Körper, umfährt die Füße mit dem Stift, bewegt sie durch den Stift, anziehend und poetisch, wie ein Zeichenwesen. Pumpen, rollen, streichen, Musik aus. Zeichnet den eigenen Körper, entsteigt der physischen Hülle und zeichnet das Innere auf Papier. Und dieses Innere ist bunt. Ritual und Grabmal?

Wie ein Skelett.
Fast zeremoniell wirkt dieses Reiben. Eine Synergie zwischen Gezeichnetem, Musik und Bewegung.
Die Zeichnung, die entsteht, ist im Farbauftrag sehr monoton, Filz- Wachs- oder gar Acrylstifte werden von Yaron Maiim dickflächig aufgetragen. Der künstlerischästhetische Mehrwert entsteht wahrscheinlich dadurch, dass die Zeichnung als Performance gedacht, verstanden und vermittelt wird.

Katharina: Maiim entfernt sich von dieser Insel, stellt sich daneben – schaut in den Himmel. Als würde der sagen was als nächstes zu tun ist.
Verharrung in einer Pose. Nur der Hintern berührt den Boden, die Hände umschließen die angewinkelten Beine – abwarten, unschlüssig oder zögernd – zwei Stifte in den Händen. Es wirkt etwas entfremdet, denn es ist das erste Mal, dass „die Zeit anhält“ und Maiim sich für ein paar Momente nicht bewegt.
Dann geht es weiter. Maiim kommt in eine wiederholende – loopende Bewegung – wie die Loopstation/ Musik, mit beiden Händen synchron Kreise malend und sich immer wieder auf den nächsten Fleck bewegend, so dass die Kreise doch verbunden wirken, trotz immer wieder neuem Ansetzen. Ich denke an eine Schwimmbewegung. Brustschwimmen auf einer weißen Plane mit zwei Stiften. Jeder „Zug“ hinterlässt mehr Farbe/ Spuren auf dem Bild.
Struktur, Symmetrie, Geometrie. Kreise, Linien, Muster.

Fotos: „Sissy Symmetrie“, Yaron Maiim ©Mayra Wallraff

Janine: Irgendwann ist Yaron Maiim das Papier zu wenig und die Linien breiten sich auf dem Asphalt aus. Maiim kriecht zeichnend, Spuren ziehend nach vorn, robbt, auf dem Bauch liegend, Stück für Stück weiter.

Um sich dann zu erheben und hockend unter dem Tisch zu knien. Maiim steht auf und betrachtet das ‚Kunstwerk‘ von außen, zeichnet auf der Plane, es werden Acrylstifte sein, Maiim reibt mit den Füßen auf dem Papier, das Licht geht an und erleuchtet die Szenerie. Durch das Reiben des Stiftes auf dem rauen, asphaltierten Untergrund und das Schütteln des Filzstift entstehen Knatter- und Froschgeräusche, wie in der Natur.

Katharina: Dieser Prozess (in einer Pose verharren, weiter malen, „etwas anderes tun wie z.B. herumlaufen oder „Inspiration holen“) wird immer wiederholt und Yaron Maiim wird immer mehr Teil dieses Bildes. Ein fortschreitender Prozess. Als Zuschauerin habe ich das Gefühl ich würde einen Blick „in eine innere Welt“ werfen. In eine bunte, liebliche, eigensinnige Welt. Yaron Maiim wirkt für mich wie ein Wesen aus einer eigenen Welt, mit „Kriegsbemalung“ im Gesicht, in der eigenen „Höhle“, mit eigenen Regeln und alles nach eigenem Sinn.
Maiims Notizbuch gibt Anregungen und Ideen und einen Leitfaden, immer wieder reinschauen, als Malwerkzeug benutzen und dann wieder weglegen. Das Buch ist bemerkenswert und sehr schön anzusehen! Die Künstlerin hat eine Art Mind-map / Assoziationssammlung gemacht und man erfährt sehr viel Hintergrundinformationen, Gedanken und Anregungen der Künstlerin. Es steckt viel dahinter. Wohl mehr als die Zuschauerinnen sehen.

Janine: Maiim ist Göttin* und erschafft sich eine eigene Welt. Eine Gött*innen-Huldigung? Ein Ritus? Ritual? Ich glaube, da passiert nicht mehr viel.

Katharina: Auch die Rahmenbedingungen passen zu der Stimmung der Performance: man kann kommen und gehen wann man möchte, so lange verharren und weiter zusehen, wie es einem in den Sinn kommt. Yaron Maiim zeigt uns die eigene Welt: schrill, bunt, spontan, willkürlich. Ich habe
das Gefühl, dass vieles improvisiert passiert – genau wie die verschiedenen Geräusche, die sie aufnimmt. Raschelnde und klackernde Stifte, das Blättern der Buschseiten, Stimmlaute.

Janine: Jetzt entdeckt Maiim, dass auch Geräusche mit der Plane möglich sind. Die kurzen Stoppelhaare kratzen an der Plane, ein Rauschen, Knattern, Schütteln, Streichen. Die sich langsam formierende Geräuschkulisse steigt empor. Maiim schaut das Publikum an und stellt die Stifte langsam auf. Sollen wir mitmachen? Von einer starken Geräuschkulisse zu einer leisen. Maiim horcht in den Boden. Legt sich schlafen?

Katharina: Maiim läuft um das Segel herum „Hm, was will ich als nächstes machen?“ Wie Pippi Langstrumpf, die eigensinnig und selbstbestimmt durch ihre Welt stolpert, und irgendwie auch wie Alice im Wunderland – in diesem bunten fantastischen Wunderland.
Narrenhafte Comicfiguren auf dem Segel – schrill und bunt.
Ein Notizbuch, eine Loopstation, Kästen mit Stiften, ein Körper.

Manchmal maschinenartig/ wie am Fließband: ein Schritt vor, bücken, synchrone Stifte, mit beiden Händen malen, und wieder von vorne.

Einmal wirkt es wie ein Kind, das ungestört und gebannt auf dem Untergrund eine Zeichnung macht.

Janina: Nein, Maiim richtet sich wieder auf. Imitiert mit den Füßen auf der Plane das Geräusch des Filzstiftes. In eine Kerze.

Katharina: Auch der Wind, der etwas stärker wird und das Segel leicht bewegt, wird mit einbezogen, indem die Füße ebenfalls das Segel bewegen.

Janine: Nun balanciert Maiim auch noch einen Stift auf dem Hintern.
Katharina: (Doch ein anderes Mal) rücklings in einer up-and-over Position den Stift auf den höchsten Punkt des Gesäßes haltend. Aber wieso? Wie passt das jetzt hier rein.
Die Willkür…

Janine: Maiim fängt an Geräusche zu machen mit der eigenen Stimme. Auf den Rücken gedreht, röchelnd und räuspernd.
Im Loop des Synthesizers wirkt es mechanisch. Die eigenen Geräusche reihen sich ein in die rituelle Körperzeichnung. Maiims Wesen scheint zum Leben erweckt worden zu sein.
Der gemischte Sound ist für mich interessanter als der Rest der Performance. Zwischendurch schaut Maiim in das Buch, es wirkt, als müsse neue (oder alte?) Inspiration gesammelt werden.
Das Heft beginnt Geräusche zu machen.
Eine Mischung aus Punk, Kitsch und Camp. Und ein bisschen Holi-Festival. Maiim zeichnet tatsächlich etwas aus dem Buch ab? Soll dies als Zauberbuch verstanden werden?
Ob es wohl an der Perspektive liegt, dass das ‚Gesamtkunstwerk‘ so überladen und unzusammenpassend auf mich wirkt? Auch von Näherem kann ich dem Street-Art Drachenmonster nichts abgewinnen.

Katharina: Aber wie wäre es gewesen, wenn etwas Heftiges unerwartetes passiert wäre? Wäre Pippi dann aus ihrer Welt gerissen worden? Vielleicht hätte ich das gerne gesehen – etwas Provozierendes, um einen Spannungsbogen zu kreieren. Wo war eigentlich die Spannung? Oder ist das für diese Performance vielleicht nicht ausschlaggebend? Denn es geht ja um den Prozess. Kein Anfang, kein Mittelteil, kein Ende – zumindest nicht gesetzt.
Die Farbe hinterlässt Spuren. Etwas, was bleibt. Ein fortlaufender Prozess. Manches kann übermalt werden, anderes wird man noch lange sehen.

Der Regen stoppt die Performance ungeplant und unvorhergesehen. Ein erleichtertes Gefühl, dass die Show ein abruptes Ende gefunden hat, stellt sich ein. Es hätte wahrscheinlich noch Stunden so weitergehen können, im Flow der eigenen Welt, als kreatives kunterbuntes Wesen, dass sich mit Neugierde und verspielter Naivität neue Räume aneignet und sich dabei mit spirituell-philosophischen Fragen auseinandersetzt.
Durch die Sichtung der Notizen erklärt sich der fragmentarische Charakter der Performance. In dem als künstlerischem Booklet angelegten Notizheft sind Mind-Maps, Wörter-Ketten und kleinere graffitiesque Zeichnungen zu sehen, die an die Performance erinnern und der Künstler*in als Forschungsgrundlagen dienten.


Die Schreibwerkstatt im Rahmen des A.PART-Festivals 2019 im ada Studio wurde von Alexandra Hennig und Johanna Withelm ausgerichtet. Hennig und Withelm haben bereits regelmäßig auf tanzschreiber publiziert, während ihrer Zeit als Studioschreiberinnen-Duo des ada Studios (2017/18) entwickelten sie eigene Methoden des dialogischen Schreibens.

Bei diesen hier auf tanzschreiber.de veröffentlichten Texten handelt es sich um Werkstatt-Texte. Sie sind in geteilter Autor*innenschaft von Teilnehmenden der Schreibwerkstatt im Mai 2019 entstanden, instant – jeweils direkt im Anschluss an den Besuch der Generalproben.

Die Schreibwerkstatt fand im Rahmen von mapping dance berlin statt, einem Modul des Projekts „Attention Dance II“, das von 2018-2021 durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und die Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert wird.