Verfasst von Akiles.*
In Berlin seinen Platz zu finden, ist nicht einfach. Doch viele Hindernisse verschwinden, wenn man von den richtigen Institutionen unterstützt wird. So war es auch bei mir, nur musste ich zunächst andere Hürden überwinden: politische Probleme, Bürokratie und eine Krankheit.
Heute Morgen bin ich um halb acht aufgewacht, um neun hatte ich eine Yoga-Klasse. Von elf bis eins hatte ich eine Projektklasse. Nach dem Mittagessen hatte ich von zwei bis fünf Einzeltraining. Von sechs bis sieben Uhr dreißig war ich bei einer Vorlesung über die Themen, mit denen wir uns befassen.
Im Gegensatz dazu hatte ich vor drei Jahren keine festen Schlaf- und Aufwachzeiten. Die meiste Zeit war ich auf dem Sofa, mit Schmerzen am ganzen Körper. Alles war wie Nebel um mich. Ich starrte an die Decke und dachte mir Wege aus der Hölle, in der ich lebte, die aber zum größten Teil unmöglich oder nur schwer umzusetzen waren. Der Schmerz war aber nicht das Schlimmste. Meine Konzentration ließ so sehr zu wünschen übrig, dass selbst kleine Alltagssachen wie Schnürsenkelbinden eine Riesenherausforderung für mich darstellten. Ich fühlte mich ständig geistig abwesend; mehrmals am Tag war ich wie von meiner Umgebung abgekoppelt. Ich begann zu stottern. Ich hatte den Eindruck, dass sich alles um mich sehr schnell bewegt, ich aber in einem viel langsameren Tempo lebte, in dem ich wie gefangen war und das ich nicht kontrollieren konnte.
Am 9. September 2014 war ich voller Hoffnung in Berlin angekommen. Ich hatte mir gesagt, dass dies mein endgültiges Ziel sein würde, nach neunzehn Jahren Umherziehen zwischen temporären, illegalen und unsicheren Wohnorten. Im Bus vom Flughafen in die Stadt schaute ich aus dem Fenster und versuchte, ihren Häusern und Straßen zu begegnen. Sie war jetzt meine Stadt. Aus Spaß versuchte ich, mir kleine Details zu merken, z. B. wie eine Mülltonne aussieht. Ein unbeschreibliches Gefühl kam in mir auf, als ich zum ersten Mal Kreuzberg sah. Rückblickend ist mir klar, dass dieses Gefühl mir sagte, dass ich in dieser Stadt mein neues Zuhause gefunden hatte.
Nach zwei Tagen Frieden begann der beschwerliche Weg zur Aufenthaltserlaubnis. Es war ein langer, anstrengender Prozess, da ich irakischer Staatsbürger und mein Fall keinen Vorrang hatte. Drei Jahre lang kam ich nicht weiter: Ich durfte nicht arbeiten, studieren, normal leben oder überhaupt irgendwie vorankommen. Inmitten dieser düsteren Zeit voller Hürden, zu denen auch Sprache, Kultur und Arbeit gehörten, tauchte am Horizont ein Lichtschimmer auf, als ich eine E-Mail von den Uferstudios erhielt: eine Einladung, an einem Treffen für internationale Künstler*innen in Berlin teilzunehmen, unter dem Titel How Do We Work It. Eine Welt der Möglichkeiten begann sich mir zu öffnen, Tür für Tür. Mit Freude lernte ich neue Leute kennen, wurde mit der Tanzszene vertraut, erkundete unzählige Möglichkeiten und erwarb Wissen. Meine Karriere ging genau in die Richtung, in die ich wollte. In dieser Zeit konnte ich wachsen und Neues wagen, während ich auf eine Antwort auf meinen Asylantrag wartete — die ich aber nie bekam.
Am ersten Tag meines Deutschkurses konnte ich meine rechte Hand nicht richtig bewegen und konnte nicht schreiben. Es war äußerst schwierig, konzentriert zu bleiben; eine Unterrichtsstunde kam mir so lang und anstrengend vor, was mir gar nicht ähnlich ist. Ich verließ den Unterricht und beschloss, mir sofort Hilfe zu holen. Daraufhin verbrachte ich zwölf Tage im Krankenhaus, wo ich unzählige schreckliche Tests über mich ergehen lassen musste. Die Diagnose: Multiple Sklerose. Damals wusste ich nicht, was das ist, und es war mir nicht klar, wie es sich auf mein Leben auswirken würde. Ich versuchte mehr über die Krankheit herauszufinden und stellte viele Fragen. Ich wollte unbedingt wissen, ob ich mich noch bewegen können würde. Die unterschiedlichen Antworten, die ich bekam, widersprachen sich. Viele Ärzt*innen deuteten an, dass ich in einigen Jahren möglicherweise im Rollstuhl sitzen würde. Nach und nach wurde mir klar, dass MS bedeuten würde, dass es in meinem Leben als Mensch und Tänzer bestimmte Veränderungen geben würde.
Es war ein Albtraum ohne Ende. Erst eine E-Mail von den Sophiensælen rüttelt mich wach: Meine Bewerbung für die Tanztage Berlin 2017 war angenommen worden. So sehr ich mich darüber freute, so sehr bedeutete es für mich auch Angst und Stress, denn ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, wie ich angesichts meiner Situation überhaupt dabei sein können würde. Ich informierte die Frau, die mich kontaktiert hatte, dass ich im Krankenhaus war. Ich werde nie vergessen, wie ich im Krankenhauscafé saß, mit einer IV-Nadel im Arm, und Anna mich fragte: „Möchtest Du mitmachen?“ Ich warf einen Blick auf den IV-Beutel, der über meinem Kopf hing, sah mich verwirrt um und sagte schließlich: „Ja, ich bin bereit“. Am 22. Oktober 2016 wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Ich konnte kaum alleine aufstehen, um auf die Toilette zu gehen. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf: Was würde ich zeigen? Wie würde ich an meinem Konzept arbeiten können?
„The Parallel Side of the Road“, über meine vierjährige Reise von Vertreibung und emotionalem Trauma bis zum Versuch, an meiner Identität und meinen Träumen festzuhalten, sollte am 13. Januar 2017 Premiere haben. Die Proben begannen in der ersten Novemberwoche. Sie begannen bereits in der Minute, in der ich aus dem Haus trat, einschließlich der S-Bahnfahrt. Auf dem Weg zu den Proben bereitete ich mich vor, hörte Musik, machte mir Notizen, ging ältere Notizen durch. Oft kam ich ins Grübeln: Warum sollte diese tragische Krankheit gerade mich befallen, für den Bewegung so essenziell ist und bei dem sich alles um körperliche Aktivität dreht? Mit der Zeit verwandelten sich diese Gefühle aber. Ich erkannte, dass, wenn bei mir die Lust und Freude an der Bewegung nicht so ausgeprägt wäre, ich nicht aus der Krankheit hätte ausbrechen können, indem ich mich in Proben und Übungen stürzte und mich mit Dramaturgie, Musik, Beleuchtung und Szenografie beschäftigte.
In dieser Zeit stolperte ich viel, hatte plötzliche Schwindelanfälle, fiel hin, verlor das Gleichgewicht. Es war oft so, dass ich mit der Schwerkraft und dem Bewegen im Raum nicht klar kam, ich fand sie verwirrend. Aber indem ich auf meinen Körper achtete und ihn stärkte, konnte ich diese Schwierigkeiten überwinden. Ich trank viel Wasser, ernährte mich gesund, ich trainierte. Ich redete mir ein, dass mir das alles bei der Heilung helfen würde. Letzten Endes war das tatsächlich der Fall. Ich war die Person, die meinen Körper am besten kannte — besser als die Ärzt*innen. Meine Performance riss mich aus den Schmerzen heraus; sie versetzte mich in eine Parallelwelt, in der ich aus der Krankheit ausbrechen konnte. So änderte ich meine Einstellung. Ich wollte meine Performance so vereinfachen, dass sie sich auf Bewegung fokussierte. Wie ich mich bewegte war wichtiger als wie viel ich mich bewegte. Es war ein qualvoller Prozess. Überhaupt zu den Proben zu gehen war an sich schon eine Herausforderung. Meine Frau wollte mich unbedingt mit dem Auto hinfahren, aber ich weigerte mich entschieden. Um auf der Bühne stehen zu können, mit festem Fuß und in meiner Gesamtheit, musste ich mich erst zusammenreißen und aufraffen.
Der Dezember kam und brachte Schnee und eiskalte Winde mit sich. Ich ließ meinen Blick über die weiße Landschaft schweifen. Ich konnte meine Gedanken nicht bändigen und konnte mich nicht konzentrieren. Ich hielt inne, ein, zwei, dreimal; nahm einen Schluck Wasser, um mich wieder konzentrieren zu können. Eine Frage kam in mir auf wie ein Gänseblümchen, das aus der Schneedecke hervorsprießt: „Wie werde ich performen, während ich mich um mein seelisches Wohlbefinden kümmere und versuche, mit den Füßen fest auf dem Boden zu stehen?” Es fühlte sich persönlich an — viel zu persönlich. Mein Stück sollte so werden, wie ich es mir immer vorgestellt hatte; ich wollte es ohne Kompromisse und ungekürzt auf die Bühne bringen. Mit Hilfe der Menschen um mich, die mich unterstützten, und der Liebe, die ich erfuhr, fand ich die Motivation, mein erstes Solo in Berlin zu kreieren. Die ganze Zeit dachte ich aber, dass es gleichzeitig auch meine allerletzte Performance sein würde.
Das ist drei Jahre her. Damals begannen Arbeit, Tanz, Choreografie, Workshops, Hoffnung, Liebe und Heilung. Ich kam mir vor wie ‚Alice im Tanzland‘. Alles ist möglich, alles ist offen, man kann fliegen, wie und wohin man will, ob hoch ob tief. Man kann seinem Wahnsinn freien Lauf lassen und über die eigenen Grenzen hinausgehen. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt. Dem konnte ich nicht entsagen; das konnte nicht einmal eine schicksalsschwere, unvorhersehbare Krankheit bewirken. Ob Berlin wirklich ‚Tanzland‘ ist, kann ich nicht sagen, aber ich weiß mit Sicherheit, dass es mein Tanzhimmel ist.
In einem Workshop im September fragte mich jemand nach der Tanzszene im Irak. Ich antwortete: „Die gibt es nicht. Tänzer zu sein, kann dort gefährlich sein.“ Eine andere Person sah mich an und sagte: „Fühlst du dich in Berlin wie im Himmel?“ Ohne lange nachzudenken antwortete ich: „Ja, in Berlin fühle ich mich wie im Himmel.“
Deutsche Übersetzung von Nine Yamamoto-Masson