Thiago Granato zeigt mit „Trrr“ den letzten Teil seiner Trilogie „CHOREOVERSATIONS“ bei Tanz im August.
Wie kann sich der Körper als Medium zwischen den Welten, zwischen Toten und Lebendigen, Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem artikulieren? Der brasilianische Tänzerchoreograf Thiago Granato behauptet seinen Körper in „Trrr“ als transzendentalen Archivträger. Für die Erarbeitung dieses Solos sei Granato in einen „imaginären Dialog“ mit lebenden, toten und noch ungeborenen Choreograf*innen eingetreten, von denen wir jedoch nichts erfahren außer der Beschwörung ihrer diffusen An- und Abwesenheit.
Eine Gestalt, deren Oberkörper mit einem schweren, orange-schwarz gesprenkelten Cape bedeckt ist, schreitet die Zuschauer*innen-Reihen in langsamen, präzisen Bewegungen ab. Wie ein Vogel, dessen Gefieder unter dem Cape bedeckt ist, wählt der Tänzer jeden Schritt mit Bedacht, setzt die gesamte Fußsohle auf den Boden, stoppt die Bewegungen mit den Knien ab – der Blick fixiert, schräg nach unten gesenkt, abwesend/manisch den Raum vor sich. Dergestalt tritt Thiago Granato in eine Art Ritual oder Geisterbeschwörung ein, Schweißtropfen perlen von seiner Stirn und gehen zu Boden. Seine Schultern hüpfen auf und ab, die Ärmel der Jacke werden abgestreift, als wollte er Vergangenheit (und Zukunft zugleich?) von sich abschütteln.
Granato hat sich einem so ausufernden wie sagenumwobenen Gegenstand gewidmet: dem Archiv. Als metaphysischer Denk-Raum begrenzt es alles, was uns umgibt und entzieht sich zugleich seiner Zugänglichkeit. „Trrr“ begegnet diesem Paradox mit einiger Verzweiflung. Ein fast cholerischer Ausruf, eine Fassungslosigkeit: “ EVERYTHING THAT EVER EXISTS WILL DISAPPEAR“ weckt die Zuschauer*innen aus der/ihrer Trance und erlöst Granato selbst vorerst aus seiner Agonie. Mit einem langen Hauch saugt er Luft ein, und mit ihr verschwindet das Licht zur totalen Dunkelheit.
Was auf dieses konzentrierte und fein gearbeitete Präludium folgt, ist der Versuch einer Narration, die in einigen Momenten von Eitelkeit und schwerem Pathos durchtränkt ist. Diese Geisterbeschwörung wirkt eher wie ein Selbstgespräch. Thiago platziert sich zunächst -nach vorn gebeugt kniend auf einen beleuchteten Sockel in der Mitte des Raumes. Über ihm thront eine Ansammlung von Lautsprechern und Kabeln, die von bunten Lichtern durchwandert werden – Stimmen aus dem Off, ab-/anwesende Seelen des digitalen Zeitalters. Der zur lebendigen Skulptur gewordene Körper bäumt sich auf, gibt den Blick auf seine Nacktheit frei und präsentiert sich zu metaphysischem Soundteppich und sakralem Licht in unverhohlener (Selbst)-Überhöhung als Medium zwischen den Welten.
Wenn sich die mysteriöse, nackte Gestalt im Halbdunkel bewegt, die Arme in Wischbewegungen durch den Raum schneiden lässt, hat sie sich selbst zur Projektionsfläche für die großen Fragen (Vergänglichkeit! Dauer! Unendlichkeit!) erhoben. Diese Art subjektiver Transzendenz bleibt jedoch ganz an seinem Körper haften, schafft es nicht, auf narrativer Ebene ein wirkliches Gespräch mit seinen auserwählten Geister-Kollaborateur*innen glaubhaft zu machen. Das Problem beginnt in dem Moment, wo Granato zu flüstern ansetzt, bedeutungsschwere Worte mit verstellter Stimme durch den Raum haucht und seiner Gestalt einen prophetischen Charakter zu geben versucht … Die Fragen, die sich dann noch stellen lassen, kommen über die Verehrung des Körpers als Projektionsfläche, als Sehnsuchtsort von Transzendenz und selbst beschworener Allmacht kaum hinaus.
Wenn er am Ende mit dem Publikum zum gemeinsamen Gesang anstimmt, fällt es mir schwer, mit einzusteigen. Kein Murmeln der Toten.