„Pieces and Elements“, Isabelle Schad © Dieter Hartwig

Politische Körper(skulpturen)

Im Rahmen von Tanz im August zeigt Isabelle Schad mit „INSIDE OUT“ Fragmente vergangener Arbeiten in neuem Kontext und Robyn Orlin unternimmt mit „Oh Louis…“ den Versuch, französische Kolonialgeschichte aufzuarbeiten.

„INSIDE OUT“ von Isabelle Schad
Die Berliner Choreografin Isabelle Schad präsentiert ihre neueste Arbeit nicht auf der Theaterbühne sondern im Neuköllner KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst.
Der noch junge Ausstellungsort im sich stetig wandelnden „Problem-Hipster-Bezirk“ bringt dabei seine ganz eigene erfrischende Note in das traditionsreiche Festival Tanz im August: Mitten im Rollberg-Kiez liegt die ehemalige Kindl-Brauerei, ein imposantes Industriedenkmal aus Backstein, mit Café und rund 2000qm Ausstellungsfläche.
„INSIDE OUT“ findet am Nachmittag statt, dauert drei Stunden und ist jederzeit begehbar: Über drei Stockwerke erstrecken sich zeitlich versetzt und überlappend insgesamt sechs Ausschnitte bestehender sowie neuer Stücke, Isabelle Schad nennt sie „Körperskulpturen“. Jede dieser Skulpturen funktioniert als Ausstellung für sich. Die Nähe zur Bildenden Kunst, die Schads bisherige Arbeiten bereits auszeichnet, wird damit konsequent auch in der Wahl des Ortes weiterverfolgt.

Für das Anschauen von Isabelle Schads Arbeiten brauch frau Geduld. Auf den ersten Blick passiert meistens nicht viel: In „Double Portrait“ (2017) und „Floatings“ (2018) erkunden jeweils zwei Tänzer*innen auf einer Matte vor einer grauen Wand die Verbindung zwischen dem eigenen Körper und dem des*der anderen. Auf den weichen Matten sitzend, hockend oder liegend, experimentieren sie mit ihren Körperteilen, halten sich gegenseitig fest, überkreuzen Arme und Beine, bilden Linien und Formen. Mit der forschen Wissbegierde und dem Spieltrieb zweier Babies durchlaufen sie diese Körper-Arrangements und erproben ohne jegliches Interesse an Spektakel und Repräsentation die Möglichkeiten der Gestaltwerdung. Die Besucher*innen betreten laufend den Raum, sitzen auf dem Boden, lehnen an der Wand, verweilen kurz, schlendern in museumsartiger Manier umher. Durch den Ausstellungskontext ändert sich auch die Blickperspektive: Die Erwartungshaltung, das Betrachten wird ein anderes. Und tatsächlich verschiebt sich irgendwann etwas, ein beruhigendes Gefühl tritt ein und ich sehe irgendwann nur noch Körper, die zu Formen werden.

In Schads Choreografien wird der Körper meist als Material begriffen, das durch Bewegung seine Form, seine äußere Textur ändert. Ein oft wiederkehrendes Motiv ist das Drehen als eine Art Unendlichkeitsmanöver und das Spiel mit Stoff und Haut – in „Turning Solo“ (2017) dreht sich die Tänzerin Naïma Ferrè unaufhörlich um die eigene Achse und entwirft durch das Dehnen des Pulloverstoffs immer wieder neue Formen, und in „Rotations“ (2018) drehen sich drei Tänzer*innen mit nie enden wollenden Ausfallschritten, schwingenden Armen und in der Luft wirbelnden T-Shirts in der Hand um sich selbst.

Die finale Gruppenskulptur „Pieces and Elements“ (2016) ist in der großen Maschinenhalle zu sehen: 12 Tänzer*innen bilden einen sich permanent transformierenden Schwarm aus schwarzem Kleidungsstoff, heller Haut und fliegenden Haaren, umgeben von hellem Licht und schneeweißen Wänden. Zeitlich versetzt und doch stets gemeinsam, durchlaufen sie verschiedene Bewegungsmotive, die sich gegenseitig überschneiden, arbeiten mit rhythmischer Wiederholung und Variation einzelner Bewegungssequenzen. Die Tänzer*innen bilden schwarmartige Flächen und Haufen – es entsteht ein gemeinsamer Rhythmus, der jedoch nicht sofort zu durchschauen ist, da die Bewegungsausführung zwar gemeinsam, aber nicht synchron geschieht. Trotzdem, oder gerade deshalb ist die Sensibilität jedes*r Einzelnen und das konzentrierte aufeinander Achten in der Gruppe notwendig und förmlich spürbar. Gewohnte Hierarchien zwischen Rhythmen und Bewegungsformen scheinen zu verschwimmen und an Stelle des Tänzerisch-Virtuosen tritt simples Bewegungsmaterial, absolute Präsenz und eine konzentrierte Aufmerksamkeit der Tänzer*innen – auf sich selbst sowie auf die anderen.

„Oh Louis…“ von Robyn Orlin
Vom unterkühlten Fine Art-Museum-Tanz-Erlebnis zurück zur Theaterbühne:
Das HAU1 mit Rängen, Platznummern und Theatergong erscheint nun im gelungenen Kontrast zum vorher Gesehenen und wirkt geradezu altmodisch. Hier zeigt die aus Südafrika stammende und in Berlin lebende Choreografin Robyn Orlin das Stück „Oh Louis…“, das sich dem Sonnenkönig Louis XIV und dem von ihm eingeführten Code Noir (ein Dekret zur Umgangsregelung mit Sklaven in französischen Kolonien) widmet.

Während des Einlasses räkelt sich der Tänzer Benjamin Pech alias Louis XIV schon im Zuschauerraum auf den vorderen Plätzen, flirtet mit eintreffenden Zuschauer*innen und redet ohne Unterbrechung. Auf der Bühne ein trashig-buntes Setting, samt Löwen-Luftballons und Plastikspiegel in pink. Der Boden ist bedeckt mit goldener Rettungsfolie, die bis zur ersten Zuschauerreihe reicht und den Sitzplatz in der Mitte der ersten Reihe verhüllt (der königliche Thron). Dazu gibt es, passend zum Zeitalter des Barocks, Musik auf dem Cembalo, live gespielt von Loris Barrucand.

Von den Zuschauer*innen wird einiges abverlangt („Robyn loves audience participation“): Pech alias Louis fordert uns auf, Orangen zu essen, allerdings auf „afrikanische“ Art: Zuerst bitte die Orange massieren bis sie innen weich wird, dann durch die Schale hindurchbeißen und den Saft in den Mund hineinpressen, dann die Schale aufreißen und das restliche Fruchtfleisch abknabbern („Come on guys, try to be an african!“). Verstohlen-beschämte Blicke im Publikum, einige probieren es, die meisten lassen es dann schnell wieder sein. Eine Frau muss auf der Bühne die fünf Positionen des klassischen Balletts mit Hilfe von goldenen Schuhen demonstrieren, ein Zuschauer wird kurzerhand auf die Bühne geholt um Louis zu heiraten, und die Zuschauer*innen in der vorderen Reihe werden regelmäßig von Pech alias Louis mit den Köpfen an seine nackte Brust gedrückt.

Benjamin Pechs zuerst humoristisch bis lächerliche und später tragisch-schmerzvolle Darstellung des größenwahnsinnigen Sonnenkönigs ist definitiv unterhaltsam – auch wenn das Ordinär-Flapsige manchmal in Klamauk zu kippen droht. Der ehemalige Tänzer des Ballet de l’Opéra de Paris scheint wie geschaffen für die Rolle des Louis XIV (der als Erfinder des klassischen Ballett gilt), wenn er hin und wieder herrlich selbstverliebte kleine Ballettsoli zur Cembalo-Musik präsentiert, natürlich halb nackt. Die Machtfigur Louis XIV wird hier gnadenlos durchseziert und als infantiler Narzisst mit Allmachtsphantasien entlarvt, süchtig nach Applaus und gefährlich impulsgesteuert, ein Gefangener seiner Selbst.

Etwas herausgerissen aus dem Rest des Geschehens, verliest der Musiker Loris Barrucand immer wieder sehr kurz einzelne Artikel des Code Noir, dann wird es kurz still im Saal, bevor die Louis-Show weitergeht. Seltsam exponiert und deplatziert wirken diese Einschübe über die Regelung des Umgangs mit französischen Sklaven – sehr eindeutig in der politischen Botschaft, und doch irgendwie in der Wirkung verfehlt. Der Hinweis auf die dunkle Vergangenheit der französischen Kolonialgeschichte wirkt plakativ, aber auch teilweise hilflos und gerät durch das bunt-chaotische Treiben auf der Bühne fast in den Hintergrund.
Zum Ende verfängt sich der Sonnenkönig im Überfluss (Goldfolie) und stirbt, und dann folgt plötzlich noch ein direkter Verweis zu heute – auch nicht gerade subtil: Eine Gruppe von Geflüchteten (ein Haufen neonfarbener Steppjacken, aneinandergeknotet) bevölkert die Bühne und nimmt schließlich symbolhaft den Thron des Königs ein. Der grausame Herrscher ist also tot und die Schwachen erobern die Macht, bis der Cembalist noch einmal symbolisch über die Bühne kotzt, bevor das Licht ausgeht. Ende gut, alles gut?