„Röhrentier“, Antonia Baehr © Isabell Spengler

Interview: Antonia Baehr über „Röhrentier“

Für Tanznacht bringt Antonia Baehr „Röhrentier“ zurück, ein Werk aus Klang, Struktur und Spinnen, entwickelt mit und für die Komponisten-Performer*innen Johnny Chang, Neo Hülcker und Lucie Vítková.

„Röhrentier“ schreibt Baehr im Programm, geht auf einen Traum zurück. Inspiriert vom physikalischen Prinzip der kommunizierenden Röhren sind ihre Performer*innen durch Röhren verbunden, „Unsichtbare Klangwellen sind hier nicht nur akustisch erfahrbar, sondern werden dinghaft gemacht.“
Zu sehen sind drei Performer*innen in einer Reihe, schwarze Konzertgarderobe auf einer weißen Bühne. Zwei haben Instrumente, der dritte ist ein Professor, der uns sagen wird, was passiert, bevor es passiert. Immer. An der Seite sitzt ein Tontechniker. Zwischen den Figuren laufen fast unsichtbare Schläuche, eine Reihe oben, eine unten. Professor Thousandtingles wird uns präzise durch die raffinierten Klangphasen führen. Er stellt dabei eine Verbindung zwischen den Mitgliedern und – durch die Kommentare – zum Publikum her. Sasha Amaya hat sich mit Antonia Baehr unterhalten, um mehr über das Stück zu erfahren.

Sasha Amaya: Vielen Dank für das Treffen! Ich war sehr fasziniert und amüsiert von dem Stück. Können Sie mir ein bisschen darüber erzählen, wie es entstanden ist?

Antonia Baehr: Das Projekt hat vor zwei Jahren angefangen. Andrea Neumann und Christian Kesten haben das Festival Labor Sonor: Moving Music kuratiert und organisiert [eine Plattform, die 2000 von Gregor Hotz, Andrea Neumann und Steffi Weismann gegründet wurde]. Sie haben Choreographen eingeladen, Werke für Komponisten-Performer*innen zu kreieren [im Ballhaus Ost]. Sie wollten ein Trio und ich habe gesagt, okay, ich vertraue euch und sie haben Johnny Chang, Neo Hülcker und Lucie Vítková eingeladen. Von den dreien kannte ich nur Johnny [Chang] ein bisschen. Wir haben damit begonnen, dass jeder Künstler den anderen seine Arbeit gezeigt hat. Zuerst hat Johnny uns vorgeführt, wie er auf verschiedene Arten Kaffee kocht, und außerdem ein Postkartenprojekt gezeigt, das er gemacht hatte. Lucie Vítková und Neo Hülcker hatten schon als Duo zusammen gearbeitet und zeigten mir, was sie zusammen und jeder für sich gemacht hatten. Dann sind wir auseinander gegangen und habe darauf und auf ihren Wünschen aufgebaut. Ich zog mich zurück und hatte einen Traum, in dem sie durch Schläuche verbunden waren, die ins Innere von Instrumenten führten und aus ihnen herauskamen, in meinem Traum waren sie große Schläuche. Wenn man zusammen Musik macht, verbindet man sich, aber hier wurde es dingfest gemacht, die Verbindung materialisiert, zum Objekt gemacht. Der Traum war so lebendig. Deshalb habe ich beschlossen, ihn gewissermaßen beim Wort zu nehmen, habe es mir zur Aufgabe gemacht, das umzusetzen.

Amaya: Ich war neugierig darauf, welche Rolle Klang in Ihrer Arbeit spielt. War das etwas Neues für Sie oder nur eine neue Herangehensweise?

Baehr: Ich habe viele Freunde, die Komponisten-Performer*innen sind. Außerdem arbeite ich in der Choreographie und in der Performance viel mit Filmmusik und ich bin sehr inspiriert von Musikern, die auch mit Filmmusik arbeiten. In der Berliner Szene wird viel interdisziplinär gearbeitet. Ich gehe viel in Konzerte und tausche mich viel mit Musiker-Kollegen aus, wahrscheinlich sogar mehr als mit anderen Choreographen.

Amaya: Können Sie mir ein bisschen mehr zur Figur des Professor Thousandtingles erzählen?

Baehr: Neo [der Professor Thousandtingles darstellt] arbeitet mit ASMR [Autonome sensorische Meridianantwort. Der Begriff bezieht sich auf das Kribbeln, das in der Kopfhaut beginnt und die Wirbelsäule hinunter bis in die Glieder läuft] und dem praktischen Internet, in dem Menschen sehr empfindliche Mikrophone verwenden und Videos machen, in denen sie im Flüsterton mit dem Publikum sprechen, weil die Mikrophone so empfindlich sind. Es geht darin um das Haarekämmen, Katzenstreicheln – manche Menschen reagieren darauf mit einem Kribbelgefühl – also arbeiten sie damit. Sie haben einen ASMR-Kanal. Ich finde diese You-Tube-Einstellung spannend „Okay jetzt wird es so sein und ich zeige es dir“, und dieses Flüstern aus technischen Gründen. Und in diesem Kanal ist Neo Professor Thousandtingles. Und ich habe diesen Professor, der alles erklärt, was passiert … bevor es passiert!

Amaya: Dieses Stück hat so eine Neue Musik Ästhetik – und ein Neue Musik Gefühl! Ich war gerade auf einem Festival für Neue Musik und Ihr Stück fängt so viel von dieser zweiwöchigen Erfahrung in einer Stunde ein. Es transportiert das Gefühl und den Look einer klassischen Probe. Alle Manirismen sind da.

Baehr: Ich kenne mich mit Neuer Musik nicht aus, für mich ist das alles neu. Neo ist Teil dieser Szene. Ich beobachte nur seltsame Dinge. Wie dass sie immer so in einer Reihe stehen [zeigt zur Bühne] und dass es immer so eine bestimmte Dramaturgie gibt, in der eines auf das andere folgt „es muss genau so und so sein“ als ob es überhaupt nicht anders denkbar wäre, obwohl es manchmal ganz schön absurd ist. Es ist also schon ein kleiner Kommentar über die Struktur enthalten.

Amaya: Aber ich habe ein bisschen bei den Proben zugeschaut und festgestellt, dass Sie auch sehr viel Wert auf Details legen, sehr präzise vorgehen. War der Entstehungsprozess dieses Stücks sehr strukturiert oder eher im Fluss?

Baehr: Das Stück verändert sich, heute Abend wird es wieder anders sein. Neue Ideen [lacht]. Gestern zum Beispiel schien es sehr kurz, weil Neue Musik-Stücke 20 Minuten lang sind, Tanzstücke dagegen 40 Minuten lang. Heute werden wir es daher länger machen.
Aber tatsächlich basiert das Stück auf dem, was ich in ihren Arbeiten gesehen habe, es bringt sie irgendwie zusammen. Lucies Arbeit – sie spielt Akkordeon und steppt – ist so großartig! Die Spinne kommt aus Neos Universum. Die Haare sind aus meinem Universum, allerdings von ganz früher, als ich meine Schwester Cello spielen ließ und ihre Haare an den Bogen gebunden habe, damit alles verbunden ist und nicht ohne Grund passiert.

Ich denke, in all meinen Stücken geht es um Verbindung. Also auch hier. Die Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Menschen und Tieren, zwischen Gesichtern (Spiegelungen) – der leere Raum zwischen zwei Dingen und auch dieser [zeigt auf den Raum zwischen uns]. Ich denke an ein Gedicht von Christian Morgenstern, „Der Lattenzaun“:

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus. (…)

Amaya: Antonia, was lesen Sie gerade?

Baehr: Ahhhh, was für eine schöne Frage! „Ein wenig Leben“, einen Roman. Ich lese viele Bücher gleichzeitig, ich mag das. Ich möchte auch Donna Haraway wieder lesen.

Deutsche Übersetzung von Bettina Homann