„Trois Grandes Fugues“, Lucinda Childs, Anne Teresa de Keersmaeker, Maguy Marin © Stofleth

Von Höhen und Tiefen – Eröffnung Tanz im August 2018

Zum 30. Jubiläum geht es im Haus der Berliner Festspiele nach „Trois Grandes Fuges“ zu post-digitalen Zukunftsvisionen in den Untergrund.

Bevor dieser Text zu den drei „Großen Fugen“, zu Standing Ovations, gecancelten Flügen und drei herausragenden Choreograf*innen – Lucinda Childs, Anne Teresa De Keersmaeker und Maguy Marin – kommen wird, zieht es mich als Erstes in den Keller.

„Nice Software” – oder: Trägt der Neoliberalismus Schlangenhaupt?
THE AGENCY mit „Medusa Bionic Rise”

Nach -viel „Hochkultur“ (drei Mal Beethoven) kann es nur bergab gehen? In jedem Fall ist es eine recht mutige kuratorische Entscheidung, den drei Grand Dames der Fugen das experimentelle, immersive Format der Performencegruppe THE AGENCY gegenüber zu stellen. Nach musikalischen und tänzerischen Höhenflügen also steigen wir hinab in Richtung Orchestergraben. Dort, auf der Unterbühne des Festspielhauses, scheint ein Raumschiff aus der Zukunft gelandet zu sein. Oder haben wir den Anbruch des postdigitalen Zeitalters einfach noch nicht mitbekommen? THE AGENCY ruft in „Medusa Bionic Rise“ – kurz „MBR“ – die Überwindung des Körpers, des Menschen an sich, zugunsten dessen absoluter Optimierung aus.

„Wenn der technische Fortschritt ungeahnte Möglichkeiten bereit hält, warum sie nicht für sich nutzen?“, fragen Performer*innen, die den Eindruck erwecken sollen, sich selbst schon halb auf dem Weg zum Hybriden zwischen Mensch und Maschine zu befinden. In mechanischen Gesten sprechen sie zu uns, bewegen sich abwesend/ferngesteuert durch das Gewölbe, nach dem Vorbild digitaler Prototypen. Sie künden von einer Welt, in der das Sterben keine Grenze mehr markiert, Menschen zu Halbgöttern, zu trans-humanistischen Gestalten geworden sind. Die Medusen von heute lassen ihr Gegenüber nicht zu Stein erstarren, sondern Nächte in Fitnessstudios verbringen und sich dabei auch noch gut fühlen.

Auf der schmalen Grenze zwischen Selbstausbeutung und Selbstermächtigung balanciert THE AGENCY selbst betont unentschieden. Während die Performer*innen in Sit-Ups, Kniebeugen und Co ihre Fitness demonstrieren – Lächeln nicht vergessen –, über Catwalks und hinter Milchgläsern in blinkenden Sneakers posieren und ihre Körper zur Schau stellen, rufen sie die Zuschauer*innen zu kleinen, aber harmlosen „Challenges“ auf oder bieten ihnen selbst gemixte „post-work-Energizer-Drinks“ an. (Nach 40 Sit-Ups bekommen wir einen Sticker als Belohnung.) In einer Art Coworking Space an der hinteren Ebene des Raumes kann man Videobotschaften von vermeintlichen MBR-Mitgliedern anschauen – Influencer*innen der post-digitalen Wende, die sich mit genetisch veränderter Gesichtshaut schmücken, modische Prothesen vorstellen oder erklären, wie man sich mit einfachen Schminktipps vor der Gesichtserkennung im Internet versteckt. Das ganze schwankt zwischen Merchandising-Veranstaltung und Happening.

Höfliche Distanz

Über die Dauer dieser zweieinhalb-stündigen Performance, die immersiv, weil ohne erkenntliche Grenze zwischen „Theater“ und „Realität“ sein will, haben die Besucher*innen jedoch kaum die Chance, sich irgendwie subversiv zu dieser zweifelhaften Situation zu verhalten (außer den Raum zu verlassen). Die Performer*innen sind nicht wirklich ansprechbar, ihre Gesten sind an ein (digitales?) Außen, an die imaginäre Fanbase(?) gerichtet und verharren hauptsächlich in der Repräsentation. Neben mich setzt sich eine Performerin, die mir tief in die Augen schaut, sich als „Spike“ vorstellt und mich als „MBR- Mitglied“ werben möchte. Noch bevor ich es mir tatsächlich überlegen würde oder mehr über die Bedingungen der geheimnisvollen Mitgliedschaft erfahren könnte, ist sie schon wieder weg. Dieses Intermezzo ist bezeichnend für die Stimmung im Club-Keller, wo es trotz engen Raums und immersiven Konzepts kaum zu Berührungspunkten kommt. Die Performance mit Event-Charakter zitiert Mechanismen des Neoliberalismus, in dem alles – auch soziales Miteinander – zum Produkt geworden ist. Mit den roten Bändchen um den Hals, die wir Zuschauer*innen vor dem Eintritt des Raumes mit vielsagendem Blick und Kompliment von einem der Türsteher*innen verliehen bekommen – „Nice Software“ –, haben wir unser Einverständnis ohne unser Zutun schon erklärt. Dieser kleine symbolische Trick weist uns als Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft aus und funktioniert darin ziemlich gut: Immer wieder sehe ich Gruppen von Personen mit verschränkten Armen in einer Ecke stehen – die roten Bändchen zwischen den Schultern verleihen ihnen Autorität und Daseinsberechtigung, lassen sie „wichtig“ statt „gelangweilt“ dort herumstehen.

Wo einer*m eigentlich angesichts der dystopischen Visionen von Unsterblichkeit und „Survival of the Fittest“ der Bubble Tee im Hals stecken bleiben sollte, wird die Kritik am Selbstoptimierungs-Wahn hier allerdings viel zu harmlos serviert (wirklich zu schaffen macht mir nur der klebrige Energy-Drink). Alle sehen gut aus, lässig-sportiv, lasziv-abgeklärt. Die Stimmung ist latent unangenehm, lässt sich aber gut aushalten.

THE AGENCY arbeiten an der Schnittstelle von Kunst und Ökonomie. Der Neoliberalismus ist zum Fundus ihrer Recherchen geworden und vielleicht ist das ein Grund dafür, warum „MRB“ selbst unentschieden zwischen Kritik und Verwertung/Affirmation derselben Kritik schwankt. Wenn sich die Türen am Ende zu gefälliger Techno Musik öffnen, gebe ich mein rotes Band wieder ab, um seltsam unberührt aus der digitalen Unterwelt wieder aufzutauchen.

Drei Grandes Dames und eine Odyssee

Vielleicht liegt es an Beethoven, dass die Medusen von THE AGENCY ihren Schrecken verfehlt haben. In jedem Fall gingen ihnen auf der großen Bühne des Haus der Berliner Festspiele drei intensive „Große Fugen“ voraus. Die Tänzer*innen des Ballet de lʼOpera de Lyon hätten auch ohne zwei gecancelte Flüge aus Lyon und eine Odyssee nach Berlin (inklusive Aufwärmen im Zugabteil) alle Achtung verdient. Nachdem das schon ungeduldige Berliner Publikum nach einer guten Stunde des Wartens (?) erfahren hat, dass sie erst kurz vor der Aufführung überhaupt die Bühne betreten konnten, war Standing Ovation und tosender Applaus irgendwie vorprogrammiert.

Untanzbare Musik

Als Beethoven seine Große Fuge im Jahr 1825 präsentierte, warf ihm die damalige Kritik Geisteskrankheit vor und fast 200 Jahre später klingt dieses Werk auch in den drei musikalischen Variationen des Abends streckenweise untanzbar. Spannend ist, welche Ansatzpunkte die drei Choreografinnen gewählt haben, um sich der Großen Fuge zu nähern. Ausgerechnet Lucinda Childs – Ikone des postmodernen Tanzes – wählt dabei den klassischsten Weg. Die 12 Tänzer*innen bewegen sich zur Orchester-Version des Orchestre de lʼOpéra de Lyon von 2016 streng formal, reduziert und in Ballett-Vokabular zur Musik und visualisieren so deren Struktur. Das ist schön anzusehen und auf den Punkt gebrachte, tänzerisch-choreografische Präzision. Anne Teresa De Keersmaeker lässt Beethovens Wucht spürbar werden – sie konzentriert sich auf die physische Kraft der Musik, lässt ihre 6 Tänzer*innen mit lässiger Power auf den Boden rollen, mit angezogenen Knien und Ellenbogen in die Höhe springen und akrobatisch umherwirbeln, bis die Musik, das Licht im letzten vollen Sprung plötzlich verlöscht. Maguy Marin schafft mit ihrem Quartett den ungewöhnlichsten und vielleicht widerständigsten Ansatz. Die vier Tänzerinnen, in rote Röcke und Oberteile gekleidet, verweigern ein Mitgehen zur Musik, stellen sich ihr entgegen und betonen damit vor allem ihre destruktiven, schweren (Zwischen)-Töne. Mit runden Rücken, eingedrehten Gliedmaßen und offenen, wehenden Haaren, die Köpfe in den Nacken werfend, gehen sie immer wieder zu Boden, stehen auf geknickten Standwagen wie Trauerweiden, betonen die Verletzlichkeit des Körpers. Wenn sie sich immer wieder gegen eine unbekannte aber allgegenwärtig scheinende Bedrohung aufrichten, ihre Hände auf die Oberschenkel klatschen lassen und die Blicke herausfordernd, fast wütend ins Publikum richten, wird der ganze Kampf spürbar und es ist fast unmöglich, sich den Vieren zu entziehen. Die Musik in dieser ältesten Aufnahme wirkt gerade auch durch den Tanz alarmierend-nervös, unbarmherzig. So eröffnet das Festival mit drei großen Ausrufezeichen: Musik, Tanz, Emotion.