„Line up“, Lee Méir © Thore Rhebach

„Man muss noch Chaos in sich haben …“

Lee Méir versammelt in „Line Up“ – einer Sprach-Klang-Bewegungs-Performance – Chaos und Organisation als gleichberechtigte, ununterscheidbare Partner*innen.

Für einen Moment kann ich tatsächlich Nietzsches „tanzenden Stern“ am Horizont aufblitzen sehen. Einige Meta-Ebenen darüber schwebt ein Zitat von Marcus Steinweg, das ich nicht verstehe, viel eher: einsehe, dass es nicht zu verstehen ist. Ein Denken, das sich selbst immer wieder hinters Licht führt. Oder: Kann mir jemand Deleuze erklären? Steinweg und Méir standen für die Entwicklung des Solos miteinander im „philosophischen Dialog“ und dieser hat seine Spuren nicht nur im Programmhefttext hinterlassen. Wie hier mit Wiederholung gearbeitet wurde, erinnert daran, dass keine Wiederholung ohne Differenz auskommt – in jedem Wieder ein Wider steckt.

Mein Poesiealbum-Spruch* flammt auf dem Nachhauseweg von den Uferstudios plötzlich in meinem Kopf auf, weil sich Méir zu Beginn ihres Solos in einen Sprach-Rausch hinein schraubt, der sich tänzelnd ausbreitet, ohne dass sie sich selbst von der Stelle rührt. Zwischen Kontrolle und Verlust setzt sich die Performerin einem „Stream of Conciousness“ aus, der die Wörter zu einer endlos scheinenden Assoziationskette – zu einem einzigen großen Satz – verflicht. Bewegungslos, aber wie in Alarmbereitschafft steht sie in der Mitte der Bühne, vor einer (noch) unbewegten Kulisse von aufgehängten Metallobjekten. Unvermittelt verfällt sie in einen Zustand von Echolalie – das unbedingte Wiederholen-Müssen von Wörtern – Wortfetzen, Satzkonstruktionen, die fröhlich-unentschieden zwischen Bedeutung und Form hüpfen.

Die Performer*in, von Kopf bis Fuß in stylisch grün-türkise Kritzel-Muster gekleidet (Chaos-Schick), steht mit beiden Beinen fest am Boden, erhebt ihre Arme ab und zu wie eine Dirigentin in Richtung Publikum und „tanzt“ mit Zwerchfell, Luftröhre und Stimmbändern. Die Worte katapultieren sich mit gleichbleibendem Tempo aus ihrer Kehle, unterbrochen nur durch kurzes Ringen nach Luft. Dieses Sprechen-Müssen / Wiederholen-Müssen richtet sich zunächst an die Situation im Raum, an das sogenannte Jetzt.

Méirs Beschreibungs-Anfall gleicht dem verzweifelten Versuch, sich der Gegenwart über Sprache gewahr zu werden. Die Wörter müssen so exzessiv wiederholt werden, weil sie einem so schnell abhandenkommen. Eine Laudatio auf das Sprechen und das Scheitern. In diesem einen großen Satz, der Sinnzusammenhänge aufruft und ständig wieder überschreibt, spricht Méir von und zu den Leuten und ihren Positionen im Raum: „people, who have entered the room, who sit in the room, who are outside, those you could not come, those who are not here …“ Unweigerlich schweifen meine Gedanken ab und rufen Szenarien auf, in denen Menschen von einem Ort zum anderen dirigiert werden. Gefängnisse, Wege von Hofausgängen zurück in die Zellen, Krankenhäuser, Flughäfen, Menschen in Schlangen, Erstunterkünfte, Choreografien von Katastrophen … Immer wieder werden diese Bilder umgelenkt, entziehen sich die Wörter der Verständlichkeit. Was ich verstehe ist: „Stand up for the people”. Zwischen dem großen Stottern drängt sich so etwas wie Bedeutung auf, die Performerin hält einen Arm erhoben, eine Hand zur Faust geballt, bis die Sprache plötzlich abbricht, Augen zu, jemand hält den Atmen an …

Im zweiten Teil dieses Solos lässt Méir die Metallobjekte an der hinteren Seite der Bühne zu einem Orchester der Zufälligkeit erklingen. Mit jeweils einer Eisenstange „bewaffnet“ erklimmt sie die Podesterie – kämpft sich durch das Dickicht der wie zu Flöten ausgehängten Rohre, Ringe und Seile. Metall klingt auf Metall, versetzt einander in Schwingung. Wie eine Kampfkünstlerin wandelt Méir durch diesen Parcours: zielstrebig, geschäftig, im Vertrauen, irgendwie durchzukommen.

An der Schwelle zwischen Chaos und Organisation hängt auch diese Klang-Einlage, die sich über die Dauer vielleicht erschöpfen würde – wobei Méirs Performerinnen-Attitüde diesen Spagat gut ausbalanciert. Es scheint, als wäre alles genau am richtigen Platz, zur richtigen Zeit – alles perfekt durchkomponiert, alles reiner Zufall. Die Performerin: lässig, gewissenhaft, routiniert-spontan.

Dass das große Spektakel ausbleibt und dass „Line Up“ insgesamt eher als Momentaufnahme wirkt, liegt vielleicht an der Einsicht, dass die schweren Fragen oft in einfache Worte gekleidet sind. Wie kann man (überhaupt) etwas (wieder) in Ordnung bringen?

Lee Méir widmet dieses Stück ihrer Mutter, die kurz vor Beginn der Proben von dieser Welt gegangen ist.

*“Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.” Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra”.