„A passo di Mulo“, Lina Gómez © Julia Klotz

Rückwärts in die Zukunft

Die Tanzfabrik Berlin lädt zum 40jährigen Jubiläum ein, auf ihre Anfänge zurückzublicken – nicht ohne die Bühnen der Uferstudios für junge Künstler*innen zu öffnen. Eine Rückschau auf das Programm vom 17.07.2018.

I) Andrea Keiz „Kollektives Erinnern“. Zur Geschichte der Tanzfabrik Berlin. Videoinstallation
II) André Uerba: „Burn Time“
III) Lina Gómez: „A Passo di Mulo“


I) Andrea Keiz: „Kollektives Erinnern“. Zur Geschichte der Tanzfabrik Berlin. Videoinstallation

40 Jahre Tanzfabrik Berlin – das heißt auch: zurück ins Westberlin der 80er Jahre, selbstgewählte Zuflucht aller Kreativen, Politischen, Andersdenkenden -lebenden und -liebenden. Diese Insel inmitten der damaligen DDR wird wohl für immer ein Sehnsuchtsort bleiben, zu dem wir, ( die heutige Tanzszene) nur staunend-träumend zurück blicken können – auch wenn einige von uns damals noch nicht geboren waren.

Die Geschichte der Tanzfabrik ist in erster Linie auch die Geschichte ihrer Akteur*innen. Andrea Keiz versammelt in ihrer Videoinstallation Ausschnitte von 22 Interviewpartner*innen, die zu den ersten Generationen der Tanzfabrik gehör(t)en, obwohl die Liste derer, die hätten befragt werden sollen, viel länger sei, wie die Filmemacherin betont. Sie hat die Tänzerchoreograf*innen der ersten Stunde nach ihren Ausbildungen und künstlerischen/ kollektiven Werdegängen gefragt – wie sie zum Tanzen, vom Tanzen zur Tanzfabrik gekommen und wann sie wieder gegangen sind.

Mit dem Vorhaben, dieses Stück Berliner Tanzgeschichte aufzuarbeiten und damit auch eine Lücke der historiografischen Forschung zu füllen, hat sie sich zweifelsohne keine leichte Aufgabe gestellt. Über den Anfang zu sprechen, ist nicht harmlos. Schon im Austausch zur Vernissage mit Claudia Henne wird deutlich, welche Sensibilität der Blick zurück verlangt. Mit der Befragung der Vergangenheit kommt das Ringen um Deutungshoheit, um Aufmerksamkeit und das Bemühen, die (eigene) Geschichte ins „richtige Licht“ zu rücken. Andrea Keiz möchte mit ihrer Installation die Vieldeutigkeit betonen, die der Oral History inhärent ist – eine mehrstimmige Versammlung von Perspektiven und Blickwinkeln etablieren. Schon bevor überhaupt etwas auf der Leinwand erscheint, zeichnet sich ab, wie all die zwischenmenschlichen Beziehungen, das Verwoben-Sein von Kunst und Leben, Abschiede und Neuanfänge die Geschichte(n) geprägt haben. Das „Kollektiv“, von dem in wohl gewählten Worten gesprochen wird – heikle Frage, wer wann wie lange dazu gehört hat – wirkt bis ins Heute. Eben jene kollektiven, horizontalen Strukturen scheinen ihren Akteur*innen einiges abverlangt zu haben, und dennoch sind es sind vielleicht eben diese Kämpfe, denen wir die Vielfalt (die Diskussionskultur! Die Experimente!) der Berliner Tanzszene zu verdanken haben.

„One-Way-Ticket nach Berlin“
Andrea Keiz geht es weniger darum, lineare Linien zu ziehen, als persönliche Erinnerungen in den Vordergrund zu rücken: Wir sehen die ehemaligen Tanzpioniere vor ihren Bücherregalen und Zimmerpflanzen, Namen überkreuzen sich – „ich bin wegen XY nach Berlin gekommen“/ „XY hat mich eingeladen, mit ihr*ihm ein Stück zu machen“ / „in der Wohngemeinschaft war noch ein Platz frei“…

Der Blick zurück lohnt sich, auch um gewachsene Strukturen der heutigen Tanzszene zu verstehen – bemerkenswert zum Beispiel, welche Rolle ehemalige Wigman Schüler*innen wie Helmut Gottschild oder Petra Kugel für die Entwicklung des Tanzes in Berlin gespielt haben. So kam Christine Vilardo, die „Frau aus Amerika“ und ehemalige Studentin von Gottschild an die Tanzfabrik. Die Verbindung zu den USA, dem „BMC-Land“ (Ka Rustler), war entscheidend für die Entwicklung des Post-Modern Dances in Berlin. Trisha Brown machte Tänze über den Dächern von New York, im Hof der Tanzfabrik fanden Performances neben/auf/in parkenden Autos und Kofferräumen statt (Abendspaziergang 1982). „Westberlin war nicht Deutschland für mich“, sagt Lotte Grohe, Ingo Reulecke spricht von den „jungen Wilden“, Dieter Heitkamp erzählt, wie er sich in „Sieg der Körperfreuden“ (1985) am Turn- und Sportwesen der BRD abgearbeitet hat. Spannend sind neben den persönlichen Erzählungen der Interviewpartner*innen natürlich auch die Ausschnitte aus dem historischen Videomaterial, das die Installation versammelt. So wird deutlich, welche künstlerischen Felder exploriert wurden – Begegnungen zwischen Musik und Tanz im Stück „Begegnungen“ (1989) etwa, oder die Arbeit mit Textkollagen im Stück „drin und gewinn, immer so hübsch“, nach einer Textvorlage von Gertrud Stein (1983).

„Und dann fiel die Mauer“
Das alles klingt aus heutiger Sicht nach unbekümmerten Zeiten, nach Freiraum und Abenteuer jenseits von Produktionszwängen. Nach: „KeinJob, keinGeld, aber jede Menge Zeit“*1 Die Institutionalisierung der Tanzfabrik, die zunehmend professionalisierten Strukturen, das Geld vom Senat, die Visionen – all das bricht mit dem Mauerfall ein Stück weit ein. Spannend wäre, an der Stelle auch Stimmen von Tanzakteur*innen der neuen Bundesländer mit aufzugreifen, für die 1989 wohl in erster Linie Aufbruch, statt Abbruch bedeutet haben mag. Auch hier zeigt sich, aus wie vielen Perspektiven sich die Geschichte erzählen lässt…

Es wäre lohnenswert und eine ziemliche Pionier-Arbeit, all diese Verbindungslinien in eine nachvollziehbare und wissenschaftlich fundierte Narration zu betten – eine Chronologie der Tanzfabrik und des zeitgenössischen Tanzes Berlin! Klar ist, dass diese Geschichte sich nur mehrstimmig erzählen lässt – Protest, Diskussion und Widersprüche inklusive.

Geplant ist, alle vollständigen Interviews, die Installation sowie weitere Spurensuchen für eine Webseite aufzubereiten und zugänglich zu machen. 40 Jahre Tanzfabrik – Geschichte, die in Bewegung bleibt.

*1 Andrea Keiz auf die Frage, wie sie zur Tanzfabrik gekommen sei.

II) André Uerba: „Burn Time“

Fast scheint es, als wären die losen Enden der Geschichte, ohne die der Blick zurück nicht auskommen kann, in André Uerbas choreografischer Installation „Burn Time“ aufgedröselt, aneinandergereiht und zu horizontalen Linien aufgehängt worden. Räume aus transparenten Fäden entstehen, entlang derer sich die Performer*innen platzieren und diese zum Leuchten bringen. Wie Glühwürmchen steigen die zitternden Flammen wackelige, imaginäre Stufen herauf, die Performer*innen setzen präzise ihre Daumen am Feuerzeug – zzzzzip. Funkeln und Knistern erfüllt den Raum, die kleinen Flammen überschlagen sich, treten in einen unaufgeregten Wettlauf ein, um alsbald zu verglühen. Wenn sie entlang den Seiten des transparenten Rechteckes verlaufen, sieht es so aus, als würde sich ein Theatervorhang öffnen – und dahinter kommen wieder neue Räume zum Vorschein: kein Ende in Sicht. Die Ruhe der Performer*innen Phillipe Enders, Jorge de Hoyos, Sonia Noya, Olivia McGregor, Jan Rozman und André Uerba hüllt den Raum ganz ein – die Flammen lassen Bilder, Erinnerungen, Gedanken aufblitzen und abschweifen. „Burn Time“ beweist auf ein Neues, dass Schönheit eine schlichte und klare Idee sein kann, auch wenn sich zwischenzeitlich der Eindruck einer konspirativen Sitzung aufdrängt. Übergroße Schatten erscheinen an den Wänden und lassen mich an Platons Höhlengleichnis denken. Das „Draußen“, von dem man nichts weiß, lässt sich nicht vermissen. Wir können einander atmen hören. Einige haben sich hingelegt – über uns eine Versammlung tanzender Flammen – ein Sternenhimmel.

III) Lina Gómez: „A Passo di Mulo“

Die Arbeiten der Choreografin Lina Gómez sind herausfordernd und bewegend, weil sie die großen Fragen stellen. Was bleibt (von uns) wenn wir weiter gehen? In „A Passo di Mulo“ wandeln vier Tänzer*innen durch imaginäre Landschaften, kehren der Zukunft den Rücken zu und treten in Resonanzräume zwischen Musik und Körper ein. Bella Hager, Julek Kreutzer, Camille Chapon und Diethild Meier setzen sich selbst, einander und dem Publikum einer Reihe von Transitionen aus. Als Grenzgänger*innen zwischen den Welten nehmen sie Wege durch „Staub, Schlamm, Wasser, Fels“ auf sich. Musik und Gesang (Michelangelo Contini, Aaron Snyder, Maja Olenderek) erklingen jenseits der Bühne und erfüllen den Raum dennoch mit ganzer Kraft. Wie auch schon in ihren vergangenen Bühnenstücken – zuletzt im Solo „Restraint“ für Julek Kreutzer – lässt sich dem Rhythmus nicht entkommen, der sich ausbreitet, unvermittelt abbricht und in den Körpern nachhallt…

Eine rasende Gestalt, deren Gesicht zunächst noch von einer Kapuze verdeckt ist (Diethild Meier) kämpft sich hastig und beharrlich am Boden entlang durch goldenen Staub. Vornübergebeugt und auf ihre Unterarme gestützt, sackt ihr Körper immer wieder zuckend in sich zusammen, um sich gleich wieder aufzurichten. Von einer unbekannten Kraft getrieben, schlägt sie nach allen Richtungen hin aus – rudernde Arme bahnen sich den Weg. Ihr Tanz entfaltet sich aus dem unbedingten Drang, weiter zu machen. „A Passo di Mulo“ berührt Themen von Migration, von Flucht, Transit, Abschied, und Anfängen. Es stellt die Frage nach dem, was wir zurücklassen, wie wir uns verlieren und finden. Zurück bleiben ein diffuses Vibrieren im Raum und der Eindruck, dass hier etwas von Bedeutung vorgegangen ist.

Eine übergroße Skulptur aus mehrlagigen Decken thront über der unbestimmten Landschaft und wacht wie ein Phantom über das Geschehen – Schutzpatron aller Reisenden? Zwei Lehmklötze liegen verlassen am Boden und werden von unsichtbaren Seilen in Bewegung versetzt. Es sind Momentaufnahmen, Stationen auf dem Weg (der kein Ankommen kennt), die die Choreografie in Szene setzt: Köpfe sind auf Schultern abgelegt, Körper lehnen aneinander und schrauben sich gemeinsam in die Landschaft hinein. Ihr Vorwärts-Kommen gleicht einem Fallen, wenn sie rückwärts in Richtung Zukunft auf scheinbar vorgezeichneten Pfaden kreisen, sich von den Umklammerungen der*des anderen lösen und doch aneinander haften bleiben. Vor ihnen das, was schon gewesen ist.

Immer wieder verdrehen die Tänzer*innen ihre Körper, kippen in Schräglagen, passieren in geschäftigen Posen den Raum, stolpern selbstvergessen durch die Zeit und fangen sich wieder auf. Der Tanz ist ihnen zugestoßen. In Momenten, in denen Musik, Gesang und Tanz eine Einheit bilden, berührt die Choreografie Sphären des Ritus, der Magie. Vielleicht auch deswegen lässt sich „A Passo di Mulo“ nur schwer mit Sprache und kaum mit rationalen Kategorien begegnen…Es ist ein Taumel – mit der Zukunft im Rücken.