Im Rahmen von Tanz im August versucht der französische Choreograf Noé Soulier, mit „The Waves“ die Beziehung zwischen Bewegung und Gedanke zu untersuchen, während das spanische Choreograf*innen-Duo Mal Pelo mit „The Fifth Winter“ zarte und zugleich kraftvolle Körper-Poesie entwirft.
Noé Soulier: „The Waves“
„Was impliziert eine Geste? Wie entfaltet sich die Bedeutung einer Bewegung?“, fragt sich der französische Choreoraf und Philosoph Noé Soulier, zu lesen im Programmheft von „The Waves“. Einzelne Elemente von Bewegungen möchte er auf ihre Essenz reduzieren und die Verbindung zwischen Bewegung und Gedanke erforschen. Doch lange nicht mehr habe ich ein derartiges Missverhältnis zwischen Programmtext und persönlicher Wahrnehmung erlebt.
Ich sehe viel Tanz an diesem Abend: kraftvolle Sprünge, Beine, die wie zum Handstand in die Luft geworfen werden, immer wieder Drehungen auf halber Spitze, gestreckte Beine, dynamisches Schmeißen von Körperteilen, schnelles Wirbeln durch den Raum, dazu expressive Gesichter. Die Tänzer*innen, alle ausgestattet mit exzellenter zeitgenössischer Technik, wirken zum Teil als wüssten sie nicht wie ihnen geschieht. Zwischendurch finden einzelne Monologe der Tänzer*innen statt, deren Inhalt ich nicht erinnere, dabei ziehen sie manchmal mit den Händen an verschiedenen Körperteilen, an ihrer Haut oder zeichnen unsichtbare Linien auf ihren Armen und Beinen – ein zur Schau Stellen, ein Ausverkauf der Körper?
Die Musik, live getrommelt von zwei Perkussionisten, ist durchzogen von abrupten Stops, Rhythmuswechseln und Pausen, die Interaktion von Bewegung und Musik erschließt sich mir nicht (was nicht grundsätzlich schlecht ist), und es entsteht so über die Dauer des Stücks ein nicht zu entschlüsselnder Rhythmus, der es den Zuschauenden bis zuletzt unbequem macht. Immer wenn ich das Gefühl habe, das jetzt etwas anschwellen, sich eine spezifische Qualität entfalten könnte, in der sich Bewegung, Licht und Sound verbinden oder eben kontrastieren, kommt wieder eine Pause, es wird dunkel/still/unbewegt – woraufhin jedoch sofort wieder der nächste Monolog / die nächste Gruppentanzszene beginnt. So wirkt der Abend wie eine beliebige Aneinanderreihung von Tanz- und Monologszenen mit unklarer Dramaturgie und endlosen Wiederholungen.
Es ist interessant, die recht unterschiedlichen Tänzer*innen mit den jeweiligen persönlichen Bewegungssprachen zu beobachten. Ich werde jedoch den Eindruck nicht los, dass sich hier eine sehr schlaue Person etwas sehr Schlaues ausgedacht hat, das sich aber leider in den Zuschauerraum nicht transportiert. Bis zuletzt bleibt das Geschehen auf der Bühne unnahbar und verkopft – gemeinsam mit anderen ratlos blickenden Gesichtern verlasse ich nach langen 60 Minuten den Saal.
Mal Pelo: The Fifth Winter
Ähnlich physisch und sehr tänzerisch (keinesfalls selbstverständlich im zeitgenössischen Tanz) aber komplett anders ist die Arbeit des spanischen Choreograf*innen-Duos Mal Pelo, bestehend aus Maria Muñoz und Pep Ramis. Denn während sich in „The Waves“ zeitgenössische Tanztechnik und philosophisches Konzept unverbunden gegenüber stehen, ist „The Fifth Winter“ von Mal Pelo das, was der Titel bereits andeutet: ein choreografisches Gedicht.
Zwei Menschen warten darauf, dass der Winter vorübergeht. Sie wandeln in schwarzen schweren Mänteln durch den kahlen Bühnenraum (ein White Cube), umgeben von den Stimmen ihrer Erinnerungen, zwischendurch aus dem Off gesprochen: Aber wenn wir weggehen, wohin gehen wir dann? Wir müssen uns an diese Wüste gewöhnen.
Die gesprochenen Textfragmente stammen aus dem Werk des italienischen Dichters Erri de Luca und bilden den perfekten Rahmen zu der zarten und zugleich starken Bewegungs-Poesie von Muñoz und Ramis. Zugegebenermaßen war ich zunächst überrascht von der Bewegungssprache der beiden Tänzerchoreograf*innen, die auf den ersten Blick nicht sehr progressiv scheint. Weiches Schwingen im Einklang mit der Atmung, ein An- und Abstoßen der Körper, fließende Bewegungsqualitäten, ausdrucksstarke Gesichter, und alles wird immer irgendwie vom Körperzentrum aus gedacht. Ich denke, so war das wahrscheinlich in den zeitgenössischen Tanzklassen der 1980er Jahre, zur Zeit etwa der Anfänge der Tanzfabrik in Westberlin. Was kein Wunder ist, denn Mal Pelo gründete sich vor fast 40 Jahren – seit 1989 choreografieren Maria Muñoz und Pep Ramis gemeinsam.
Doch die zarte Poesie in der präzise gearbeiteten Bewegung, die starke Präsenz (ich bin ganz bei dem was ich jetzt in diesem Moment tue) und aufrichtige Haltung der Tänzer*innen sind es, die langjährige Erfahrung und profundes Körperwissen erkennen lassen. Auch als irgendwann alles nach Tanztheater schreit, wenn Requisiten (Stehlampen!) hin- und hergetragen werden, plötzlich Liegestütze ausgeführt, Mäntel vom Leib gerissen und Gesichter verzerrt werden, nehme ich den beiden das ab. Und so vergeht das Gedicht, die Bühne leert sich, die beiden Menschen heben kraftlos ihre Arme, verlassen den Raum, eine Hängelampe zieht ihre letzten Kreise in der Luft, bis das Licht ausgeht. Eine Nacht. Sand, viel, viel Sand. Der Himmel auf meinem Kopf, der Himmel schlägt auf meinen Kopf. […] Tausende von Sternen […] Ich bin wie ein verlorener Stern am Himmel, ich will mich mit mir selbst aufreihen, aber ich schaffe es nicht, schaffe es nicht.