„Paradise Now 1968-2018“, Michiel Vandevelde © Clara Hermanns

Kollektive Zukunftsperspektiven?

Bei der diesjährigen Jubiläumsausgabe von Tanz im August fanden auch junge choreografische und tänzerische Nachwuchstalente einen Platz. Mit „Paradise Now (1968-2018)“ verankert der belgische Jungchoreograf Michiel Vandevelde die Vision eines neuen, politisch ambitionierten Tanztheaters für junges Publikum exemplarisch in der Gegenwart.

Längst sind sie zu einem Synonym für die Generation der heute 6- bis 28-Jährigen geworden: jene fotografischen Selbstporträts, die sich neudeutsch Selfies nennen. Die Affinität dieser drei Jahrzehnte umspannenden Altersgruppe zum selbstdarstellerischen Bild hat der Jungchoreograf Michiel Vandevelde aufgegriffen. In „Paradise Now (1968-2018)“ hat er mit dreizehn jugendlichen Akteur*innen des belgischen Produktionshauses fABULEUS einen beinahe bilderflutartigen, ikonischen Ritt durch die wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte seit der Studentenrevolte von 1968 unternommen. Die alte Frage nach der politischen Bedeutung und Funktion des Theaters wird dabei aus einer zukünftigen Vision von Tanztheater heraus in der Gegenwart wiederbelebt, um im Rückblick auf die studentischen Anarchiebestrebungen Ende der 60er-Jahre mögliche Wertvorstellungen heutiger Jugendlicher zu entwerfen.

Flüchtige Partizipation an Tanz- und Weltgeschichte

Zwei experimentelle Theateraufführungen im New York von 1968 prägten den Begriff „Performance“ in der Kunst maßgeblich und haben zum zeitgenössischen, oftmals partizipativen Verständnis von Tanz beigetragen: Das bacchantische „Dionysus in 69“ der von Richard Schechner 1967 gegründeten The Performance Group sowie „Paradise Now“ des zwanzig Jahre zuvor entstandenen Living Theatres, einer von Antonin Artauds Theater der Grausamkeit inspirierten anarchistisch-pazifistischen und spirituell angehauchten Theaterkommune rund um das Künstlerehepaar Julian Beck und Judith Malina.

Berlin, 2018. Dreizehn Jugendliche zwischen vierzehn und dreiundzwanzig Jahren schmeißen sich vor einem Vorhang aus flimmernden Fäden gemeinsam in immer neue Posen und erschaffen präzise Standbilder epochaler Ereignisse zwischen 1968 und 2017. Als Zeitzeugen einer zutiefst aufgewühlten und verzweifelten Welt zappen sie sich gegenchronologisch durch fünfzig Jahre dokumentarischer Fotografie. Nachgestellt werden Aufnahmen vom Women´s March 2017 und Donald Trumps Wahlsieg 2016 über Obamas Amtsantritt 2009 und die Präsentation des ersten i-Phones 2007 bis hin zu schrecklichen Kriegsereignissen und Gewaltregimen in Syrien 2012, Srebrenica 1995, Ruanda 1994, Iran 1979 und Kambodscha 1975. Aber auch einschlägige Szenen aus Filmen wie „Saturday Night Fever“ von 1977 und „Titanic“ von 1997 stellen die Jugendlichen trotz rasender Themenwechsel ausdrucksstark und eindringlich nach. Das letzte Standbild zeigt die Exekution eines Guerilla des Vietkong im Jahr 1968, der wie beiläufig vom damaligen saigoner Polizeichef getötet wurde. Zwischen Opfer- und Täterrolle wechselnd, referieren die dreizehn Darsteller*innen dabei auf eine Fotografie von Eddie Adams, die einen Wendepunkt im Vietnamkrieg darstellte und auch in das Stück „Paradise Now“, der letzten kollektiven Aufführung des Living Theaters, einging. Mit diesem letzten Standbild schlägt Vandeveldes Stück in ein Reenactement seines historischen Originals um.

Sehnsucht nach dem Kollektiv

Mit der Bereitschaft zu absoluter körperlicher Verausgabung verleiben sich die dreizehn Stellvertreter*innen der gerne als an der Wirklichkeit unbeteiligt angesehenen Generation Selfie die ursprünglich vierstündige, scheinbar nicht enden wollende Performance in Ausschnitten ein. Letztere sollte damals gewaltfrei als kollektiv-spirituelle Selbsterhebung auf die Umwälzung der Welt in ein irdisches Paradies vorbereiten. Ein Ewigkeitsgefühl stellt sich auch in Vandeveldes mit The Who´s loopartigen Song „Love Reign O´er Me“ untermalten Version des Stücks ein. Arme um Schultern haltend, tanzen die Nachwuchstänzer*innen unter stoßweisem und synchronem Ausatmen im Kreis und stimmen sich gemeinsam auf rituelle Exzesse ein, die aus der sicheren Distanz des Zuschauersessels erahnen lassen, was das Publikum 1968 beim Festival in Avignon und an den anderen internationalen Spielorten erlebt haben muss. Im Beckschen Original saß das Publikum rund um die kaum bekleideten Performer*innen des Living Theatres, von denen sie ordentlich zum Mitmachen provoziert wurden.
Vandevelde, der selbst ein ehemaliges Kompaniemitglied von fABULEUS ist und bei P.A.R.T.S in Brüssel studierte, hält die inszenierten Ausschweifungen seiner Schützlinge in Grenzen. Vermutlich tut er das zum einen aus Gründen des Jugendschutzes, zum anderen, weil er, indem er die vierte Wand nicht zu häufig durchbricht, die Distanz zum historischen Vorbild aufrechterhält. Dafür spricht auch das auf die Jetztzeit referierende Kostümbild.
Was sich während der anderthalbstündigen Aufführung trotz Einsprengseln von protestierendem Gebrüll und kurzzeitig entblößten Genitalien der älteren Akteur*innen herausschält, ist der Wunsch nach fürsorglicher Kollektivität – im Sinne eines freundschaftlich-unterstützenden Zusammenhalts wie er in einer Szene absoluter körperlicher Erschöpfung zu erleben ist. Wo die Akteure*innen bei Beck das Publikum zur gemeinsamen Bewusstseinserweiterung aufforderten, laden Vandeveldes Jugendliche das Publikum mit dem augenzwinkernden Versprechen, dass keiner berührt werde, zur nüchternen Reflexion auf die Bühne ein. Genau hier tut sich eine weitere historische Kluft auf; zwischen dem damaligen, körperlich intensiven und politisch ambitionierten Theater und heutigen konzeptuell geprägten und oftmals auf körperfernen Metaebenen agierenden Tanzaufführungen. Das Living Theatre lebte seine Ideale mit Fleisch und Blut. Die philosophischen Gedanken der fABULEUS-Jugendlichen zu Hoffnung, Verzweiflung und ausbleibendem Widerstandserfahrungen wirken seltsam schal und aufgesetzt. So hält das Stück das Bild einer politisch nur flüchtig interessierten gegenwärtigen Jugend aufrecht und etabliert zugleich eine Vision zu einem zukünftigen politisch ambitionierten Tanztheater für junges Publikum. Auf dass das „So-tun-als-ob“ seine Früchte trägt!