„AMALGAM SoloFest“, AMALGAM Collective © Manuel Marcos

Wo können wir tanzen?

Das Studio K77 zu „AMALGAM SoloFest“ zu betreten, das Teil des PAF Festivals ist, ist wie in einen Wirbelsturm zu geraten. Körper sind durch den Raum verteilt, manche sitzen, andere stehen, manche blicken in Gruppen in die gleiche Richtung, andere setzen sich unabhängig ab, um sich Organisationsfragen zuzuwenden. Ohne klaren Bühnenraum hat das Publikum keine andere Wahl als ebenso aktiv zu sein, wie jene, die dem Kollektiv angehören. Jedes Solo erfordert, dass wir unsere Hocker umstellen, um die Handlungsbedingungen zurückzusetzen, neu zu positionieren und neu zu organisieren. Es scheint, als wären wir alle Performende in diesem wilden Fokuswechsel.

Aus dieser Unordnung tritt eine Reihe von Solos zu Tage. Ein Mann mittleren Alters in einem roten T-Shirt tanzt einen kämpferischen Tanz mit einer Leiter, begleitet von einer Musik, die an Flamenco erinnert. Eine junge Frau tut sich mit ihrer professionellen Kamera zusammen, macht, als sie Bilder von uns knippst, einen Buckel gleich einem Tier – sind wir unschuldige Zaungäste oder sind wir Voyeure? Eine Tänzerin mit Behinderung lässt ihre Arme und Schultern fließen und watet durch manchmal dicke, manchmal dünne Luft unter ihren Fingerspitzen. Eine andere, sehr erfahrene, improvisiert mit komplexen Gesten, schneidet mit ihren Gliedmaßen spitze Winkel und taucht in flüchtige Rhythmen ein.

Manchmal sind die Solos simultan im Raum positioniert, mit Verbindungen zwischen den Spieler*innen, die durch die Nachbarschaft ihrer Körper entstehen. Zu anderer Zeit werden die Performenden zu einer improvisierten Choreografie mit der Beleuchtung verführt. Der Lichtgestalter richtet die Bühnenlichter auf die Performenden, während er die Farben wechselt oder lässt sie über ihnen hüpfen als er vorbeispringt und versprüht dabei nicht nur Strahlen, sondern auch spürbare Energie. Die Beleuchtung ist ebenso physisch wie die Bewegung der Tänzer*innen, ein Mitverschwörer im Schauspiel des Momentes.

Der Lichtgestalter hat noch eine andere, bedeutendere Rolle: die des Moderators. Charismatisch, nonchalant, und ein gewandter Redner, ist er der rote Faden zwischen den Solos. Er ist das Auge im Sturm. Schwarzgekleidet mit einem stoppeligen Schnurrbart, der seine Oberlippe kitzelt, wirkt er männlich, aber sein queerer Körper gibt auch andere Züge preis, über die er selbst gelegentlich Witze macht. Er erzählt uns, dass dies der Ort sei, an dem Kunst gemacht werde. Er erzählt uns, dass die Berliner Künstler*innen dabei sind, einen Notstand auszurufen und zusammenzukommen, um die edlen und notwendigen Ideen von Gemeinschaft, Solidarität und Freiheit wieder in Kraft zu setzen. Roh, ungeschönt und rebellisch, diese Punk-Attitüde ist die treibende Kraft des AMALGAM Collective. Sie bewegen sich in Gegenkultur-Fashion gegen die Normen des Mainstreams.

Unter den vielen Choreograf*innen und Companys, die sich aktuellen Fragen der Gentrifikation und des europaweiten Rechtsrucks widmen, stellen sich die Künstler*innen des AMALGAM Collective den Turbulenzen frontal. Sie greifen die Diskussionen um die Rummelsburger Bucht und die Alte Münze auf, und während immer mehr Tanz-Räume unter Beschuss geraten, bringen sie ihre Performances auf die Straßen, finden dabei neue Bühnen und Zuschauer*innen und stellen unermüdlich die Frage:„Wo können wir tanzen?“

Zu einem Zeitpunkt des Abends spricht der Moderator eine Zuschauerin direkt an. „Möchtest du tanzen?“ fragt er. Sie nickt. Es folgt ein Tanz der mutigen Zuschauerin, begleitet von einem Musiker mit einem selbstgebauten Instrument im Gasmaskenstil. Vermutlich wachte sie am Morgen auf, ohne auch nur den blassesten Schimmer zu haben, dass sie heute Abend performen würde. Gerade dieses Element von Überraschung und Offenheit erlaubt es dem Kollektiv, ihre Reichweite auszudehnen: Ihre Kraft liegt darin, dass sie Instrumente nutzen, die den Prozess des Kunst-Machens demokratisieren und ihnen erlauben, den Puls einer Gruppe zu treffen – einer Gemeinschaft – deren Ausmaße größer sind als die derer, deren Loyalität sie bereits in Anspruch genommen haben.

Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski