„Chöre des Spekulativen“, Sebastian Blasius ©Florian Krauss

Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein

In der Arbeit „Die Chöre des Spekulativen“, die vom 23. bis 25. April 2021 als Livestream präsentiert wurde, widmet sich der Theaterregisseur Sebastian Blasius der Gestalt und Funktion des antiken Chores, den Etappen seiner Auflösung und Möglichkeiten seiner Reinszenierung. Die Szene im Heizhaus der Uferstudios (Berlin) transformiert den leeren Raum in ein reflexiv-atmosphärisches Spiel, das sich zwischen Choreografie, Sprache und Installation ereignet. 

Zerstreut im Raum, in dessen Mitte unter einer kahlen Glühbirne vier Hefte liegen, befinden sich sechs Performer*innen (Leonard Dick, Alexandra Finder, Fabian Hagen, Maria Helgath, Berit Jentzsch, Brigitta Schirdewahn). Schon der erste ausgesprochene Satz: „Antigone featuring academics for peace“, entfaltet einen vielstimmigen Bedeutungsrahmen, der während der Aufführung immer weiter ausgedehnt und durch intertextuelle Bezugnahme auf Vorlagen unterschiedlicher Dramatiker wie Goethe, Schiller, Molière, Shakespeare und Beckett erweitert wird (Dramaturgie: Dirk Baumann). Die Texte von Ebru Nihan Celkan, Vinicius Jatobá, Amahl Khouri, Paul P. Zoungrana, Karima El Kharraze, deufert + plischke, Zhu Yi, Björn SC Deigner, Antigone Akgün, die als kryptische Textfragmente ausgesprochen werden, dienen jedoch nicht der Etablierung fiktionaler Figuren. Vielmehr generieren sie Impulse für die spekulativ-performative Auseinandersetzung mit fortlebenden kolonialen Machtstrukturen und Ausschlussmechanismen. Der Text wird in wechselnder Form, entweder als Monolog oder als chorischer Sprechakt, wiedergegeben, wodurch sich die Sprache in erster Linie als rhythmischer Klang artikuliert, zu dem sich die Performer*innen in unterschiedlichen Konstellationen, Tableaus und Raumkompositionen bewegen. Der visuell reduzierte und minimalistisch gestaltete Bühnenraum (Raum: Mark Lammert) lenkt den Fokus auf die Relation zwischen Bewegung, Körper und Sprache, sodass die Texte nicht auf die kommunikative Funktion reduziert sind, sondern in ihrer Leiblichkeit und Materialität dargestellt werden. 

Im ersten Teil der „Chöre“ setzt sich die Inszenierung vorwiegend mit Themen der Kriege im Nahen Osten, der Genderasymmetrie, der Migration und der Religion auseinander, wodurch ein kritischer Kommentar über die ausgeübte Gewalt formuliert wird. Ein Satz, der eine Zeit lang chorisch wiederholt wird, lautet: „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein.“ Ähnlich wie die Sprache oszilliert das Bewegungsvokabular zwischen unisono aufgeführten Teilen und einzelner Köperhandlungen, die sich von der kollektiven Bewegung emanzipieren und den Kontrast zwischen dem „Wir“ und dem „Ich“ zum Ausdruck bringen. Der abwechslungsreiche Modus kollektiv-chorischer Aufführung, aus der immer wieder einzelne Performer*innen heraustreten, wiederholt die Urszene des Theaters in der griechischen Antike, die nach theatergeschichtlicher Auffassung durch jenen Moment markiert ist, in dem der Tragödiendichter Thespis den Protagonisten aus der chorischen Masse heraustreten ließ. Laut Programmheft streben „Die Chöre des Spekulativen“ inhaltlich aber auch formal eine Dekonstruktion unterschiedlicher Entwicklungsphasen der Theatergeschichte an. Was damit eruiert wird, ist die Erschöpfung chorischer Strukturen, die mit dem Zerfall der Gesellschaft und dem Niedergang der Idee der Kollektivität korrespondieren. Die performative Spekulation über chorische Formen des Zusammenseins liest sich daher als kritischer Kommentar über die beschädigte Gesellschaft des „Westens“, in der Begriffe wie Solidarität, Ethik oder Gerechtigkeit jede Bedeutung verloren haben und keinen Bezug mehr zur sozialen Praxis herstellen können.  

Aus medialer Sicht wird die Aufführung nicht in Form eines kontinuierlichen, ungeschnittenen Livestreams dargeboten. Die Kamera wechselt vielmehr häufig die Blickwinkel, was der Arbeit einen filmischen Charakter verleiht. Durch bewusste Inszenierung der Blickrichtung, die immer dann aktualisiert wird, wenn die Performer*innen in das Objektiv schauen oder der Kameramann zu sehen ist, theatralisiert dieser Umgang die (zeitlich und räumlich versetzte) Beziehung zwischen den Zuschauer*innen und den Performer*innen. Die theatrale Situation als intersubjektives mediales Ereignis wird gegen Ende der Aufführung mittels Text weiter vertieft. Das Videobild füllt sich mit kurzen Sätzen, die als Titel über den Bildschirm rollen und die Sicht auf die Aufführung stören. Aussagen wie: „Look at me“, „Don´t you see it?” sowie der berühmte Satz von Jacques Lacan: „You never look at me from the place from which I see you”, lenken die Aufführung in Richtung phänomenologischer und psychoanalytischer Reflexionen über Subjektivität und Asymmetrie der Blicke. Parallel zu dieser zusätzlichen Textebene konzentrieren sich die Performer*innen in den letzten zwanzig Minuten auf die sprachliche Wiederholung des Wortes „lessness“, das als expliziter Hinweis auf die gleichnamige kurze Novelle von Samuel Beckett zu verstehen sein muss. Ihre Körper kreisen um einen Stuhl, auf dem die älteste unter ihnen, Brigitta Schirdewahn, in langsamem Rhythmus nach vorne und hinten schwankt. Die Szene erinnert an Buster Keaton, der im Film „The Film“ (nach dem Szenario von Beckett) in ein leeres Zimmer flüchtet, um sich dort vor den verbrecherischen Blicken der Anderen zu schützen. Würde man an dieser Stelle den Bogen zurück zum spekulativen Chor spannen wollen, stellt sich die entscheidende Frage: wie kann man zusammen und dennoch anders und divers sein?    


„Chöre des Spekulativen“ im Heizhaus / PSR – Uferstudios Berlin, Premiere als Stream am 23. April 2021. Weitere Informationen zum Stück und aktuelle Termine finden Sie auf der Webseite des Regisseurs Sebastian Blasius.