„The Dying Swans Project: all tomorrow’s parties”, Constanza Macras ©Jeanette Bak

An alle (Open Air) Parties von Morgen

„The Dying Swans Project“, konzipiert von Eric Gauthier und produziert von Gauthier Dance / Dance Company Theaterhaus Stuttgart, ist ein Screendance-Projekt mit internationalen Choreograf*innen, welches während des zweiten Pandemiewinters entstand. Die in Berlin lebende Choreografin Constanza Macras zeigt in ihrer Videoarbeit „all tomorrow’s parties“ eine faszinierende Perspektive auf einen Post-Party-Zustand als Erwachen aus der Covid-19-Zeit. Einen anderen Blickwinkel liefern Meg Stuart und Damaged Goods durch ein poetisches und berührendes Screendance-Werk für das Haus der Kulturen der Welt.

Wenn man Gauthier über die Entstehung von „The Dying Swans Project“ sprechen hört, wird einem klar, dass die gewählten Themen einem körperlichen und emotionalen Zustand entstammen, welcher spezifisch durch die Covid-19-Situation hervorgerufen wurde, und nicht irgendeiner losgelösten künstlerischen Recherche. Nach der Absage der Wintertournee der Kompanie fühlte sich Gauthier körperlich am Boden – gleich einem sterbenden Schwan – als er die Hoffnungslosigkeit seiner Tänzer bemerkte. So entstand dieses Projekt, welches ganz für den Bildschirm (und dank Zoom auch durch den Bildschirm) erarbeitet wurde, in “Rekordzeit“. Ein*e jeweils andere*r Choreograf*in hat für alle Tänzer*innen von Gauthier Dance ein etwa dreiminütiges Solo kreiert, das an Fokines weltberühmtes Meisterwerk von 1907 für Anna Pavlova erinnert.

16 Choreograf*innen, 16 Tänzer*innen, 16 Musiker*innen und 16 Filmemacher*innen summieren sich zu einer Gesamtzahl von 64 Künstler*innen, die an dem Projekt beteiligt sind. Interessanterweise wurde als Datum für die Streaming-Premiere der 16. April gewählt, welcher auch als 16.04. gelesen werden kann. Das klingt nach einer mathematischen Verabredung mit den Sternen, die diese Arbeit der Öffentlichkeit als eine Botschaft der Hoffnung vorstellen soll. Gauthier erklärt, dass er mit dem Bild des Schwans – auch durch die Figur des „verhungernden Schwans“, der um sein Überleben kämpft – ein Gefühl der Hoffnung vermitteln möchte, anstatt sich auf den Tod zu konzentrieren, einem Thema, welches in diesen Zeiten so intensiv durchlebt wird. Durch die Wiederverwendung der Schwanenmotivs, welches sich in der Tanzwelt schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so großer Beliebtheit erfreut, drückt Gauthier die Relevanz der Beschäftigung mit choreografisch-archäologischen Prozessen als Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Umständen aus.

Mit einem klaren Verweis auf Velvet Underground und den Hit von Nico erwacht die Tänzerin Sidney Elizabeth Turtschi in Constanza Macras‘ „all tomorrow’s parties“ aus einem unruhigen Schlaf in der Open-Air-Lobby des Zoologischen und Botanischen Gartens Wilhelma in Stuttgart. Gekleidet in einen “Post-Party“-Look schreitet sie zwischen Reihen von streng kuratierten Bäumen entlang. Referenzen aus dem klassischen Ballett und Repertoire-Gesten, Voguing, fragmentierte Bewegungen, Kreise des Oberkörpers und Bodenrollen sind in Macras‘ unverwechselbarer Schmelztiegel-Bewegungssprache alle enthalten. Als Resultat dessen schafft es die Tänzerin jenes Gefühl der angenehmen Erschöpfung zu verkörpern, welches man nach stundenlangem Feiern erreicht. Die Umsetzung des bekannten Schwanenflügelschlags mit Armen in Voguing-Sequenzen und die Verwendung des “Dips“ lassen mich den Regenerationsprozess des Mädchen-Schwans am deutlichsten erkennen. Interessanterweise nutzt Macras den Raum im Freien sowohl ortsspezifisch als auch theatralisch, indem die seitlichen Baumreihen Flügel implizieren und die Frontalperspektive auf die Architektur des Foyers ein mögliches Proszenium zeigt. Der Soundtrack von Robert Lippok, Macras‘ langjährigem Kollaborateur und Mitglied der inzwischen aufgelösten To Rococo Rot, erinnert an die Atmosphäre einer After-Party. Zum Ende hin hört die Musik auf, und ich höre das Rauschen des Brunnens. Die Tänzerin zündet sich eine Zigarette an und beschwört dabei Bilder von Momenten nach dem Sex herauf.

Während der Pandemie ist das Genre des “Screendance“ zu einem starken und allgegenwärtigen Werkzeug geworden, um Tanz zu sehen und zu schaffen. Tanzkünstler*innen haben faszinierende Perspektiven entwickelt, um nicht nur mit ihrem Publikum in Kontakt zu bleiben, sondern auch, um Live-Räume virtuell zugänglich zu machen, die andernfalls unbetretbar blieben. Meg Stuarts Nutzung des Daches des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) ist ein solcher Fall. Mit dem Projekt „CC: World“ hat das HKW 31 Künstler*innen beauftragt, auf die aktuelle Pandemie in Form von persönlichen Video- und Essay-“Briefen“ an die Welt und die gesamte Menschheit im cc zu reagieren. Die Arbeit wurde im Herbst 2020 uraufgeführt. Stuart kreierte, inspiriert von einem Zustand des „Alleinseins“, vier Teile: „The Lobby“, „Intermission“, „Overtime“ und „The Clock“. Jeder wird von Gedichten mit von Hahn Rowe komponierter Musik begleitet. Mit Ausnahme des ersten Teils, welcher sich in der Haupthalle des HKW abspielt, finden die restlichen auf dem riesigen weißen Wellendach des Gebäudes statt. Im ersten Video bewegen sich fünf Tänzer*innen mit Wrestling-Masken durch die Halle, nehmen ihre Plätze auf den Sofas ein und wirken fast desorientiert. Im zweiten bewegen sie sich über das Dach und sind in schwarzes Plastik gehüllt und tragen rosa Handschuhe, da Berührungen immer noch nicht erlaubt sind. Im dritten Teil versuchen die Wrestler-Tänzer*innen, eine fahnenartige Skulptur auf dem Dach zu befestigen und scheitern daran. Im letzten Teil bewegen sich die Tänzer*innen langsam über die Oberfläche des Daches, als ob sie in den Himmel fallen würden, und schaffen so eine verdünnte Landschaft. Zum ersten Mal sehen wir die Stadt um sie herum klar und deutlich. Das Videobild, dabei an die Bewegung einer Uhr erinnernd, dreht sich vertikal. Virtuell im Freien und dem Himmel so nahe zu sein, vermittelt sowohl das Gefühl, nach dem Unbekannten zu greifen, als auch jenes Gefühl von Schwindel und Verlust, welches man verspürt, wenn man auf dem Gipfel eines Berges ankommt. Obwohl diese Arbeiten bereits seit einiger Zeit verfügbar sind, scheinen sie für diese drei kurzen Tage des unerwarteten Sommers geeignet: Das Timing dieser Botschaft der gestärkten Hoffnung für das Gegenwärtige und Künftige des Tanzes ist perfekt. 

Deutsche Übersetzung von Alex Piasente

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„The Dying Swans Project“ ist bis zum 16. April 2023 kostenlos in der 3sat-Mediathek und auf den Social-Media-Kanälen des Theaterhauses Stuttgart und von Gauthier Dance zu sehen.

„CC:World / Meg Stuart“ ist auf der Website und dem Vimeo-Kanal des HKW verfügbar.