„Silkworms“, Renae Shadler & Mirjam Sögner ©Piotr Pietrus

Wunder weben

In der Performance „Silkworms“ (gesehen am 3. Dezember 2021 im Radialsystem) verweben die Choreografinnen und Tänzerinnen Renae Shadler und Mirjam Sögner Choreografie mit ergreifenden Bildern, um die Haut in ihrer Funktion als sinnliches Gefäß zu erforschen. Durch ihre ständige Aufmerksamkeit für haptische Rückkopplungen erzeugen sie eine choreografische Struktur, die einerseits in der Lage ist, die Entstehung und Auflösung von Phantasielandschaften zu vermitteln, und die andererseits von den Ergebnissen eines Prozesses der sensorischen Forschung und Bewegungsproduktion geprägt ist.

Als ich ein Kind war, erzählte mir mein Großvater, wie seine Familie auf dem Land Seidenraupen züchtete. Die Seidenraupen waren allerdings kein Luxus, sondern stellten eine Möglichkeit zum Überleben dar. Dank der Einnahmen aus der Seidenraupenzucht konnten sie die Pacht für ihr Land bezahlen. Trotzdem erinnere ich mich bei seinen Erzählungen an mehr als nur die wirtschaftlichen Aspekte dieser Praxis. Ich erinnere mich auch an die fantastischen Elemente – die Magie der Würmer, die ihre Kokons weben, das Warten, während sich die Würmer verwandeln, die Maulbeerblätter …

„Silkworms“ beginnt in einem kleinen, intimen Raum, der von der Hauptbühne abgetrennt ist. In dieser schwarzen Box hängt ein großer weißer Stoff von der Decke über ein paar kleinen schwarzen Tischen. Shadler und Sögner sitzen auf dem Boden und tauchen einige Stoffstücke in gelbe Farbe. Wenige Augenblicke später nehmen sie die Stoffstücke aus dem Färbebad, verweben sie miteinander und legen das Ergebnis auf einen der schwarzen Tische. Das verwobene Textil sieht aus wie ein verkaufsfähiges Kunstwerk. Dann nehmen die Performerinnen das weiße hängende Textil ab. Sie falten es, knoten es zusammen und nehmen es mit auf die Bühne. Das Publikum folgt und wir werden aufgefordert, unsere Plätze einzunehmen. Auf der Hauptbühne hängen Shadler und Sögner ihre Stoffskulptur in der hinteren linken Ecke auf. In der anderen Ecke sehe ich eine Reihe von Holzstangen auf dem Boden liegen.

Das erste, was mir auffällt, nachdem wir von einem Raum in den anderen gewechselt haben, ist, dass sich die Art der Beziehung zwischen den beiden Tänzerinnen verändert hat. In dem kleinen schwarzen Raum waren sie eng beieinander, aber jetzt wirken sie, obwohl sie im perfekten Takt zueinander sind, distanziert und losgelöst. Sie beginnen, über gelbe Textilien zu laufen, die auf der Bühne liegen, als würden sie über Eis gleiten. Während sie sich bewegen, verändern sie die Intensität ihrer Bewegungen. Das Licht im Raum nimmt zu und wird wärmer, im Gegensatz zu dem vorherigen Gefühl der Kälte. Die Verschränkung der Unterarme der Darstellerinnen bildet eine kraftvolle Geste. Durch diese Geste und die folgende Bewegungssequenz verbinden Shadler und Sögner ihre Schwerpunkte und verschieben sie im Raum. Durch die Vereinigung ihrer Körper schaffen sie eine dreieckige Form, die einer Skulptur ähnelt. Diese Aktion scheint mich an das textile Kunstwerk zu erinnern, das sie zu Beginn des Stücks gemeinsam geschaffen haben.

Shadler und Sögner wenden sich den langen Holzstangen zu, die in der Ecke der Bühne liegen, und beginnen mit ihnen zu interagieren. Die darauf folgende Bewegungssequenz basiert darauf, die Stangen vom Boden zu heben und sie auf eine Weise zusammenzusetzen, die an Elemente des Webens erinnert. Es ist fast, als würden sie über die physischen Beschränkungen der geraden Stangen hinausgehen und irgendwie ein flexibles Netz schaffen. Sie vollziehen im Anschluss daran eine Art von Meditation in Bewegung, während welcher sie den Boden streicheln. Die Intensität ihrer Bewegungen nimmt zu, bis sie in der Zerstörung der Holzstruktur gipfelt, um zusammen mit den zuvor verwendeten gelben Textilien zwei Fahnen zu schaffen. 

Die Musik wird lauter. Während sie mit den Fahnen in der Hand durch den Raum gehen, nehmen die Performerinnen zum ersten Mal Blickkontakt mit dem Publikum auf. Der visuelle Fokus verändert sich, als hätten sie entdeckt, dass es wieder eine Außenwelt gibt. Shadler und Sögner hängen die Fahnen an Seilen auf, die in der Mitte der Bühne an der Decke befestigt sind, und bringen sie dann zum Schwingen. Sie packen die Textilskulptur aus und bilden zwischen sich, indem sie ihre Münder mit einem Stück davon bedecken, einen Schlauch aus Stoff. Nachdem sie sich in eine Art zweiköpfigen Wurm verwandelt haben, tanzen sie energisch. Das ist ein fesselnder Moment! Aus dem hinteren Teil der Bühne dringt ein helles Licht. Die beiden scheinen von diesem Licht angezogen zu werden und verlassen die Bühne durch die Hintertür in Richtung einer beleuchteten silbernen Leinwand, die an der Außenseite des Gebäudes hängt. Die Zuschauer*innen sind eingeladen, ihnen zu folgen.

Von Beginn des Stücks an habe ich das Gefühl, eine Aufführung zu erleben, in der zwei individuelle kreative Persönlichkeiten – nämlich Shadler und Sögner – miteinander verschmelzen, um eine choreografische Erzählung zu entwickeln, in der der Blick und die physische Präsenz des Publikums zu einer synergetischen Komponente der Aufführung werden. In dieser Arbeit wird das Element der Transformation sehr treffend mit der im Stück verwendeten Materialität und der Art und Weise, wie Materialien ineinander mutieren, verwoben. In den Programmhinweisen heißt es: ‚Wir interessieren uns für den Kokon selbst und dafür, wie dieser spezifische Raum die Transformation ermöglicht.‘ In dem Moment, in dem Shadler und Sögner ihre Gesichter mit dem Stoff bedecken, verwandeln sie auch ihre Identitäten und schaffen eine neue phantastische und phantasievolle Realität als Antwort auf das, was wir alle weltweit erleben. Ein weiteres Element, das für mich in dieser Arbeit stark hervortritt, ist der Tastsinn und die vielschichtige, verstärkte Wahrnehmung, die er mit sich bringt. „Silkworms“ ist keine Arbeit, die rein metaphorisch zu verstehen ist, sondern auch als ein choreografischer Mechanismus, durch den sich das haptische Bewusstsein für Texturen – Holz, Haut, Stoff – durch Berührung ständig verändert und transformiert.

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente


„Silkworms“ von Renae Shadler und Mirjam Sögner wurde vom 3. bis 5. Dezember 2021 im Radialsystem uraufgeführt.

Konzept, Choreografie und Performance: Renae Shadler und Mirjam Sögner. Komposition: Tobias Purfürst. Bühnenbild und Kostüm: Judith Förster. Lichtdesign: Emese Csornai. Creative Companion: Pauline Payen. Produktion: ehrliche Arbeit – freies Kulturbüro.