„Die Ausschreitung“, Cécile Bally & Emma Tricard ©Dieter Hartwig

Erinnern erinnern. Oder: 2081 – das Jahr in dem die synthetischen Pommes erfunden wurden

In ihrer Performance „Die Ausschreitung“ (3.-5.12.2021, Ballhaus Ost), die gleichzeitig auch eine performative Buchvorstellung ist, entwerfen Cécile Bally und Emma Tricard ein dystopisches Zukunftsszenarium, das beherrscht ist von einer allgegenwärtigen Macht und ihren synthetischen Pommes. Und spekulieren darüber, wie wir es hacken können.

Haben wir als Einzelne Einfluss auf unsere Zukunft oder sind wir ihr willenlos ausgeliefert? Könnten wir als Kollektiv den Verlauf der Zeit und damit der Geschichte beeinflussen? Wer erzählt überhaupt die Geschichten, die uns prägen, leiten und verleiten? Obwohl die Moderne uns unzählige Innovationen und Technologien beschert hat, scheint es immer schwieriger zu werden, uns vorzustellen, wie eine Zukunft aussehen könnte. Stattdessen werden wir von den Geistern dieser verlorenen Zukünfte heimgesucht.

Irgendwas dampft. Der dichter werdende Dampf wird bestrahlt mit grünen Wörtern, die einen Prolog bilden: „Do you hear it coming? It is very silent. It is very loud. … It’s there. … Do you see it? … “. Wir, das Publikum, werden aufgefordert: „Spüre es.“ Und meine Augen spüren es. Sie brennen vom Theaternebel, das passiert manchmal. 

Es ist dieses mysteriöse „it“, das uns im Laufe der Performance „Die Ausschreitung“ im Ballhaus Ost immer wieder begegnen wird. Aber wer oder was ist dieses unsichtbare, spürbare Es, gegen und durch das sich die beiden Performer*innen, als die Bühne sich schließlich erhellt, hindurch kämpfen? Als müssten sie vor etwas auf der Hut sein, ständig wachsam, ständig in Bewegung bleiben, die mal mehr mal weniger mechanisch ist, wie fremdgesteuert wirkt und zum Sound passt – als würden die beiden von Gespenstern getrieben, heimgesucht von Geistern aus der Zukunft.

Auch die folgenden sprachspielerischen Sequenzen bestärken dieses gespenstische Gefühl, dass sich hier etwas verweigert, etwas, das Schatten wirft, das spukt und in Chiffren kommuniziert. In einem Sprachwirrrwar aus deutsch, englisch und französisch, sprechen die Tänzerinnen Cécile Bally aka Copper Key und Emma Tricard aka Glitch über das, was abwesend ist, was sich entzieht, dennoch anwesend ist, weder tot noch lebendig ist: „Its not there.“ – „Can you see it?“ – „Ask it if it can find it.“ Mit Wiederholungen und grammatikalischen Verfremdungen spielend, treiben sie ihre Dialoge zunehmend ins Absurde: „I will remember you will remember that you will have remembered … “. Das Absurd-Gespenstische wird verstärkt von den Sound- und Satzfragmenten (von Niels Bovri), die aus dem Off eingespielt werden und durch die Props und fantastischen Effekte (von Sara Wendt) sichtbar gemacht werden, wie z.B. eine die Sichtachse scheinbar brechende Brille oder Tafelschwämme, auf denen die Performerinnen durch die teilweise geflutete Bühne waten. Räume und Zeiten schieben sich zunehmend ineinander, immer wieder die Wiederholungen – bis Glitch, in eine der immer wieder thematisierten synthetischen Pommes (erfunden im Jahr 2081) beißend, einen Proustschen Madeleine-Moment erlebt: „I remember …“ – sie erinnert sich vage daran, dass sie sich mal erinnern konnte.

Als Glitch und Copper Key schließlich beginnen aus den Büchern vorzulesen, die vorne auf der Bühne liegen, werden wir Zuschauer*innen daran erinnert, was dieser Performance zu Grunde liegt – nämlich ein kollektiv verfasstes Buch, eine Science Fiction Novelle, deren Elemente in verschiedenen Workshops in Chile, Belgien, Frankreich und Deutschland gesponnen und schließlich von der Autor*in Clay AD zusammengetragen wurden. Und damit verwandelt sich das Stück in eine performative Präsentation des Buches, in dem ich nach der Vorstellung die ganze dystopische Geschichte von den Synth-Pommes und diesem gespenstischen Es* – im Buch mit Gendersternchen geschrieben – nachlesen kann und weiter darüber spekulieren kann, ob es Glitch und Copper Key schließlich gelingen wird, sich dem autokratischen Einfluss des Es* zu entziehen, ihre eigene Geschichte zu bestimmen und sich ihrer Erinnerungen zu erinnern.


„Die Ausschreitung“ von Cécile Bally & Emma Tricard läuft noch am heutigen Sonntag, 5. Dezember 2021 sowie erneut am 21. & 22. Januar 2022 um jeweils 20 Uhr im Ballhaus Ost. Das dreisprachige (Englisch / Deutsch / Französisch) Buch „The Flood | Die Ausschreitung | Le Débordement“ kann vor und nach den Vorstellungen gekauft werden.