„BETWEEN“, Howool Baek ©Matthias Erian

Wir Tragen Welten in Uns

„BETWEEN“ ist eine fesselnde virtuelle Reise durch Raum, verschiedene Universen und die unermüdliche Vorstellungskraft der in Berlin lebenden Choreographin Howool Baek, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Sounddesigner Matthias Erian und dem Medienkünstler Jin Lee. Dieses interaktive Web-Erlebnis (noch zu sehen bis zum 5. Dezember 2021) basiert lose auf Baeks gleichnamiger Live-Performance, die im Oktober 2019 uraufgeführt wurde, und ist abwechselnd ein Videospiel in Ego-Perspektive, ein absurder Animationsfilm und eine seltsame Tanzsuite für Hände und Füße. Neben seiner ehrgeizigen multimedialen Hülle birgt das Werk auch tiefgreifende Reflexionen über Körperdarstellung, die Subjektivität der Zuschauenden und die Unendlichkeit der multiplen Universen, die wir in uns tragen.

„BETWEEN“ beginnt mit einem prägnanten Bild des Weltraums, in dem es von tanzenden Händen und Füßen nur so wimmelt. Ich scrolle hoch und finde meinen Weg durch diese seltsame Galaxie und entdecke riesige Collagen von Händen, die einfache Gesten ausführen, die mich an Schattenbilder erinnern. Auf meiner Reise durch den Weltraum folgt ein Meteoritenschauer aus geballten Fäusten und tanzenden Beinen, die bald in ein riesiges, augenförmiges schwarzes Loch gesaugt werden. Ich scrolle erneut, um ihnen zu folgen.

Die folgenden Kapitel der Performance sind noch fesselnder und halluzinogener. Hände und Arme verwandeln sich in Escher-ähnliche Vogelkeile, in Weizenähren, die im Wind schweben, in die Wurzeln und Äste eines Baumes und sogar in Insekten, die in der menschlichen Haut verschwinden und aus ihr herauskommen. Nahaufnahmen von menschlichem Haar öffnen Portale in andere Dimensionen mit verblüffenden Bildern, die an surrealistische Gemälde erinnern. Die mehrstimmige Musik von Matthias Erian beginnt mit rauen Geräuschkulissen und fernen himmlischen Melodien, um dann schnell in Vogelgezwitscher, Insektengezwitscher und das beunruhigende dumpfe Geräusch von splitterndem Holz überzugehen. Auch die Stereo-Soundeffekte wirken wahre Wunder. Wenn ich bei meiner Erkundungstour entweder nach rechts oder nach links abbiege, reagiert das Sounddesign schnell und sorgt für ein eindringliches Erlebnis. Es ist genau diese relative Freiheit bei der Wahl des eigenen Tempos, der Erzählung und sogar der Musik, die „BETWEEN“ so verblüffend macht.

In „Der emanzipierte Zuschauer“ schrieb der französische Philosoph Jacques Rancière, dass der Zuschauer keine lenkende Hand braucht und stattdessen „seine eigenen Wege im Wald der Dinge, Handlungen und Zeichen, die ihn konfrontieren oder umgeben, abstecken“ würde. Es könnte kaum ein besseres Beispiel für diese Theorie geben als diese interaktive Web-Performance. In „BETWEEN“ ist der*die körperlose Betrachter*in nicht mehr als ein Cursor – ein Blick, ein Blickwinkel. Je nach Neugier und Geduld kann er*sie seinen*ihren eigenen Weg durch die gesamte Erfahrung steuern, indem er*sie einige Kapitel ganz überspringt oder bei anderen länger verweilt. Man sollte sich jedoch nicht vormachen, dass das Format den Zuschauenden völlige Freiheit gewährt. So ist es beispielsweise nicht möglich, die Performance zurückzuspulen, um frühere Episoden noch einmal zu sehen. Auch wenn es manchmal an ein Videospiel erinnert, in dem man fliegenden Fäusten ausweicht oder auf Objekte klickt, um durch sie hindurchzutauchen, gehorcht die Webversion von „BETWEEN“ doch denselben dramaturgischen Regeln wie eine Live-Performance.

Howool Baek erklärte mir in einem Gespräch per E-Mail, dass die Idee, die Bühnenversion von „BETWEEN“ online zu stellen, bereits diskutiert wurde, bevor der Theaterbetrieb durch die Pandemie zum Stillstand kam. Während der Pandemie begann Baek, den digitalen Raum als eine Bühne zu betrachten, die in der Lage ist, eine Ansammlung verschiedener Medienformate zu beherbergen, so dass sich eine Online-Version der Performance von einem herkömmlichen Videostream unterscheiden würde. Aber wenn die Bühne virtuell wird, was passiert dann mit dem Körper? Ich habe in letzter Zeit eine Reihe von Tanzstücken gesehen (z. B. „Assembly Instructions“ von Nir Vidan), in denen der Körper fragmentiert ist. In vielen dieser Arbeiten waren die Gesichter der Performer*innen durch Masken, Perücken, Hände, Leichentücher oder T-Shirts verdeckt, und ihre Torsi und Gliedmaßen waren sichtbar, während sie ihren eigenen unvorhersehbaren Tanzpartituren folgten. Baek segmentiert die Körper der Performer*innen auch digital, indem sie Collagen aus ihren Gliedmaßen erstellt, um eine schillernde digitale Assemblage zu konstruieren und diese dann in das Online-Universum zu übertragen. Dieser Ansatz ist alles andere als neu für sie, denn Baek sagt, dass sie schon seit über zehn Jahren über die Frage nachdenkt, welche Ausdrucksformen andere Körperteile innehaben, wenn keine Gesichter mehr zu sehen sind. Während viele der Episoden in „BETWEEN“ abstrakt und die Körperteile ausdruckslos erscheinen mögen, zeigt das Werk auch aufregende Nahaufnahmen menschlicher Haut mit pochenden Adern, Poren und den Linien auf den Handinnenflächen. Solche gelegentlichen Einblicke in die reine Körperlichkeit verleihen diesem unheimlichen kosmischen Treiben Wärme und machen das gesamte Werk auffallend intim und persönlich.

Ich schalte meinen überhitzten Laptop aus, schließe die Augen und habe ein unheimliches Déjà-vu-Gefühl. Habe ich diese endlosen Felder mit sich im Wind wiegenden Fingern schon einmal gesehen? War es vielleicht nur ein Traum? Edvard Munch hat einmal geschrieben: „Nichts ist klein, nichts ist groß. Wir tragen Welten in uns.“ Ich habe das Gefühl, dass die vielschichtigen virtuellen Universen von „BETWEEN“ diese inneren Welten symbolisch abbilden, wie unirdisch oder abstrakt sie auch sein mögen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass die Navigation durch sie einem luziden Traum glich: beunruhigend und evokativ, aber dennoch seltsam vertraut.

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente


“BETWEEN” von Howool Baek läuft vom 1. bis 5. Dezember 2021, um 23:59 Uhr kostenfrei auf betweenontheweb.com.

“BETWEEN” interactive web performance: Concept, Choreography, and Dance – Howool Baek | Interactive Media Art – Jin Lee | Composition and Sound Design – Matthias Erian | Dance – Nicole Michalla, Lorenzo Savino.