„Baby Choir“, Josefine Mühle & Suvi Kemppainen ©Venla Helenius

Zwischen Eibe und Sprossen: Vergänglichkeit, extrauterin

Josefine Mühle und Suvi Kemppainen verwandeln mit „Baby Choir“ den Hochzeitssaal der Sophiensæle (16.-19. Dezember 2021) in einen spekulativen, extrauterinen Transitraum changierend zwischen Geburt, Begehren, Lusterfüllung und Vergehen.

Ein Schopf ragt zaghaft aus dem dichten, schweren Vorhang hervor, der das hintere Ende des Bühnenraumes markiert. Es knistert, schmatzt, rauscht. Ein sanftes Gurgeln. Erst ein, dann zwei, dann drei Körper winden sich langsam aus dem Vorhang heraus, kriechen zuckend auf dem Rücken, schieben sich mal ineinander, mal nebeneinander, schnappen nach Luft, als atmeten sie zum ersten Mal. Es rauscht, gurgelt, schmatzt – wie im Inneren der mütterlichen Fruchtblase. Später erfahre ich: wir hören Krabben. Die schimmernden, fluoreszierenden Kostüme lassen die Körper wie von glitschiger Feuchtigkeit überzogen erscheinen – als ob noch klebriger Mutterschleim an ihren neugeborenen, soeben aus der feuchten Mutterhöhle geflutschten Körpern haften würde. Und so als würden sie zum ersten Mal diese außeruterine Welt erblicken, scannen ihre Augen erstaunt die Umgebung, während sie, nun bäuchlings, sabbernd den Bühnenraum bekriechen – wahrscheinlich auch beschnüffeln, denn es sind wohl Hör-, Tast- und Riechsinn, die sich bei Babys als erstes entwickeln. Hüfte und Hintern nach oben stoßend versuchen sie langsam in den Vierfüßlerstand zu kommen. Die Stabilität des Skeletts, die Rotation der Gelenke, die Stärke der Muskulatur, der Gleichgewichtssinn werden erprobt, ebenso wie groß der Raum ist, der für ihre unentwickelten Körper erreichbar ist: Aktion folgt Reaktion, die Körper verhandeln mit der Schwerkraft im Raum. Ein Baby spielt Verstecken, das Verschwinden seines Körpers hinter dem eigenen Ellbogen oder hinter einem anderen Körper.  

Mit Hilfe des Vorhangs, an dem sie sich unbeholfen festhalten, gelingt es ihnen schließlich sich aufzurichten. Der Sound trillert und pfeift mir in den Ohren, ab und zu ertönt ein Stöhnen, das übergeht in Gesten eines lustvollen Penetrierens des Mundes. Wir sind mitten im oralen Stadium des Säuglings. Ursprünglich war wohl beides, Nahrungsaufnahme und Lustbefriedigung, im Akt des Saugens noch ungetrennt. Jetzt wird als Ersatz für die abwesende Mutterbrust das Daumenlutschen zum lustvollen, autoerotischen Akt, der befriedigt und tröstet – was offenbar gelingt: Wieder schmatzt, schnalzt, stöhnt es, bis schließlich alle Finger und die ganze Hand im Mund verschwinden, hungrig nach der weichen erogenen Mundschleimhaut, nach Befriedigung der Begierden.

Wir aber, das Publikum, sitzen zwischen verrotteten Blättern, Ästen, Äpfeln – zwischen Vergänglichkeitssymbolen, in Glasvitrinen ausgestellt, die auf die gleichen Bänke montiert sind, wie die, auf denen wir sitzen. Stillleben aus Eibe, dem, weil giftigen, Baum des Todes und der Unterwelt, verdorrten Blättern und vertrockneten Blüten, abgestorbenen Zweigen und Früchten – Fundstücke, die auf den natürlichen Kreislauf des Werdens und Vergehens verweisen, museal ausgestellt, als kämen sie aus einer weit entfernten Vergangenheit, in der noch Hortensien blühten und das Moos weich und saftig-feucht war. Es sind diese eingesperrten Naturbruchstücke, die uns in eine andere Zeitlichkeit versetzen. Wir, das verstreut platzierte reale Publikum, blicken wie aus einer fernen Zukunft, in der Natur nur noch musealisiert existiert, auf ein Bühnengeschehen, das wiederum eine andere, nämlich aus der Säuglingsperspektive phantasierte Zeitlichkeit in Szene setzt. Mein Versuch aber, die Stillleben zu fotografieren, also festzuhalten, misslingt, denn die Lichtwellen überfordern mein Kameraobjektiv. Sichtbar wird stattdessen ein Glitch, ein Übertragungsfehler und eine weitere Sphäre, die sich unseren menschlichen Augen entzieht, die erst im Reich des Maschinellen und des Digitalen sichtbar wird.

Josefine Mühle und Suvi Kemppainen haben gemeinsam mit den Tänzerinnen Xenia Taniko und Johanna Karlberg mit „Baby Choir“ einen spekulativen Transitraum geschaffen, der multiple Zeitlichkeiten eröffnet. Es ist ein Raum, in dem – vor allem auch dank Licht und Set von David Eckelmann, den Kostümen von Moran Sanderovich, sowie dem intensiven Sound von Fjóla Gautadóttir und Reetta Nummi – die Grenze zwischen vorgeburtlichem und nachgeburtlichem Dasein, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Leben und Tod aufgelöst, und dadurch Vergänglichkeit als Aspekt eines Werdens erscheint.

Der Sound ist mittlerweile bedrohlicher und dichter geworden, und die drei Babys eng, lustvoll ineinander verschlungen, als schließlich ein viertes Wesen im Vorhang sichtbar wird. Bäuchlings schlängelnd nimmt es die drei in Empfang – um sie sanft zurück hinter den Vorhang zu ziehen, in die feuchte, dunkle, gedämpfte intrauterine Höhle oder vielleicht doch eher in ein Jenseits oder ein anderes Diesseits. Alles vergeht. Alles verrottet. Alles wird.


„Baby Choir“ von Josefine Mühle und Suvi Kemppainen läuft noch heute, am 19. Dezember 2021 um 19.30 Uhr in den Sophiensaælen.