„On Earth I´m Done: Mountains“, Jefta van Dinther ©Urban Jörén

Rätselhafte Topografien des Jenseits

Nach der Weltpremiere im Mai 2021 in Stockholm war das Tanzprojekt „On Earth I´m Done: Mountains“ von Jefta van Dinther und Cullberg vom 15. bis 18. Dezember 2021 im HAU2 zu sehen. In der Form eines Tanzsolos thematisiert die Choreografie die komplexe Beziehung von Natur und Kultur. Im Fokus stehen die Herausforderungen des Transhumanismus und der Technologie sowie die Möglichkeit der spirituellen Neudefinition und Neuorientierung der Menschheit an einem Ort jenseits der bekannten Realität.

Man sitzt vor einem halbdunklen Bühnenraum (Bühnenbild: Numen / For Use), der mit einem großen weißen Stoff ausgestattet ist, welcher quer über den Boden verteilt ist. Aus einer Lichtquelle am hinteren Ende der Bühne strahlt buntes Licht in Richtung des Publikums und vermischt sich mit langsam dichter werdendem, künstlichem Nebel. Dadurch entsteht das vage Bild einer schneebedeckten Landschaft, die sich irgendwo am Ende der Erde und am Rande der Zeit ausgebreitet hat. Die technoartige Geräuschkulisse (Komponist: David Kiers), welche die akustische Resonanz der Aufführung bestimmt, untermalt mit dröhnenden und rauschhaften Sounds den Eindruck dieser künstlichen Bühnenwelt auf suggestive Weise.

Nach etwa fünf Minuten erkennt man im Dunkeln die Umrisse eines Körpers, der einen langen Stock in den Händen hält und sich langsam auf die Stoffbahnen zubewegt. Der Tänzer (Marco da Silva Ferreira) trägt ein rotes, hautenges Kostüm, das an Kompressionskleidung für Sportler*innen erinnert und die Anatomie des Körpers sichtbar macht. Seine Handlungen fokussieren sich zuerst auf den langen Stock, den er als Ruder, Mikrofon oder langen Hebel benutzt und mit dem er langsam die Bühne umkreist. Der tanzende Körper befindet sich im Zustand einer ruhelosen Bewegung, die unterschiedliche Figuren, Bilder und Assoziationen  entfaltet. Er/es könnte ein Roboter, ein Athlet, ein Sänger, ein Monster oder auch ein Raubtier aus dem Urwald sein. Aufgrund der Mehrdeutigkeit und Rätselhaftigkeit der Gestalten, ist man als Zuschauer*in aufgefordert, eine interpretative Arbeit zu leisten.

Die turbulente Transformation des Körpers wird durch die Kinetik des Bühnenbilds intensiviert, die sich, ähnlich wie der Tänzer, permanent verändern wird. Die Stoffbahnen sind nämlich an einem Seil befestigt und werden langsam in die Höhe gezogen, wodurch eine vertikale Bewegungsachse erzeugt wird. Die Konsequenz dieses Vorgangs ist das Verschwinden der Berglandschaft und das Entstehen neuer Bildräume, in denen sich der Tänzer wie in einem Zelt oder einer Schutzhülle kurzfristig verbergen kann. Das meditative Entweichen des Stoffs steht jedoch im starken Kontrast zu dem hektischen Tanz und der dröhnenden Musik. Zum vollen Ausdruck kommt die performative Wirkung des Bühnenbilds im Epilog der Aufführung. Nachdem der Stoff völlig entschwunden ist und die Bühne in vollständiger Dunkelheit eingetaucht wird, erhebt sich nun auch der schwarze Boden. Es entsteht somit der Umriss eines großen Dreiecks, der einen Berggipfel darstellt und die metaphysisch-spirituelle Transformation der Form veranschaulicht.

Wie man im Pressematerial lesen kann, nimmt „On Earth I´m done: Mountains“ das Publikum „mit an einen Ort außerhalb des konventionellen Raum-Zeit Kontinuums. Berge stehen für Dauerhaftigkeit und Stabilität und werden als Tor zur Transzendenz betrachtet. Als Menschen werden wir beständig von unserer eigenen Verflechtung in das Spannungsverhältnis von Natur und Kultur heimgesucht.“ Das Spannungsverhältnis von Natur und Kultur zeigt sich prägnant in jenen choreografischen Konstellationen, in denen das eindeutige Körperbild transfiguriert wird und der Tänzer unterschiedliche Wesensarten verkörpert, die zwischen animalischen, transhumanen und monströsen Gestalten wechseln. Ein konzeptueller Ausganspunkt ist der Gegensatz von virtueller und analoger Realität. Gegen Ende der Aufführung hört man einen Text, der wiederholt in die Geräuschkulisse eingemischt ist: „Everything in this world is augmented, virtual, generated, populated, manipulated, vaccinated, monetized, corrupt …“. Die verschwindende Landschaft der weißen Berge könnte daher auf die Verdrängung der Natur verweisen, auf das digitale Weltbild, in dem Körper in technologische Prothesen und vernetze Avatare verwandelt werden.

Die Sehnsucht nach Transzendenz markiert dagegen die Ausrichtung ins Innere, in ein unbekanntes und unerforschtes Territorium. In einem Interview, in dem van Dinther über „Mountains“ reflektiert, bemerkt er: „Venturing into that which is unknown and hidden has always been compelling to me. With this I mean the investigation and transformation into other forms of life, into beings that are not of my kind but with which I still feel a kinship. And more importantly, into these territories inside of us that we know less about, that remain mysterious to or hidden from us – instinct, desire, belief, belonging.” Als Versinnbildlichung dieses verborgenen und imaginären Raums am Rande der Sichtbarkeit entfaltet „Mountains“ eine atmosphärische Schattenwelt, in der anorganische und organische Materie zu einer Mischform zusammenwachsen, die gleichzeitig das Denken anregt und emotionale Wirkung generiert.

Das Projekt, wie Dinther es selbst beschreibt, ist eine „archaisch-futuristische“ Choreografie, die sich gleichzeitig mit der Urgeschichte wie auch mit der Endzeit auseinandersetzt. Das bestimmende Element ist die szenografische Struktur, mit der eine elaborierte Raumdramaturgie hervorgebracht wird, die das choreografische Konzept in einer sinnlich-symbolischen Geografie verortet. Zudem ermöglich das Bühnenbild das Zusammenspiel von Körper und Raum, welches besonders gut zum Ausdruck kommt in jener Szene, in welcher der Tänzer sich in den Stoff einwickelt und in die Luft gehoben wird. Der levitierende Körper und die vertikale Bewegung suggerieren eine spirituelle Topografie, in der die verlorene Verbindung zwischen Geist und Materie, Kultur und Natur imaginativ hergestellt werden kann. Wo sich dieser Ort genau befindet und ob es eine Utopie oder Dystopie, archaische Vergangenheit oder visionäre Zukunft ist, muss jede*r Zuschauer*in für sich selber entscheiden.


„On Earth I´m Done: Mountains“ — Choreografie: Jefta van Dinther. Performance: Marco da Silva Ferreira. Entstanden in Zusammenarbeit mit: Suelem de Oliveira da Silva. Sounddesign: David Kiers. Bühnenbild: Numen / For Use. Lichtdesign: Jonatan Winbo.

Weitere Informationen zur Produktion und Aufführungstermine unter cullberg.com.