„#PUNK 100% POP *N!GGA”, Nora Chipaumire
„#PUNK 100% POP *N!GGA”, Nora Chipaumire © Ian Douglas

Tanz im August Interview-Reihe: Nora Chipaumire

Nora Chipaumire kehrt mit ihrem jüngsten Stück „#PUNK 100% POP N!GGA“ zurück zu Tanz im August. Provokativ, voller Freude und Herausforderung bringt dieses dreiteilige Live-Performance-Album sowohl die Performer*innen als auch das Publikum an seine Grenzen.

Wie verstehst du die Rolle des Publikums in diesem Stück?
Im Grunde sind die Zuschauenden das Stück! Sie machen zunächst alle den gleichen Fehler: Sie denken, dass wir das Stück sind, während sie aber – ohne es zu wissen – ihre eigene Rolle in seinem Verlauf einnehmen, was ich großartig finde. Sie umgeben uns, schauen einander an und fragen sich, ob sie in der Lage sind, eine gemeinschaftliche Entscheidung zu treffen. Sollten sie weglaufen? Oder lieber bleiben? Sollten sie unseren Anweisungen folgen, oder sich ihnen widersetzen? Für mich ist das Publikum Autor*in des sie umgebenden Raums, sie choreographieren seine Politik durch ihre Solidarität, ihre Komplizenschaft oder auch ihre offene Verweigerung. Der Performanceraum gleicht dabei einem Wahlkreis und das Publikum muss wählen, um sich so für das Eine oder Andere zu entscheiden.

Gab es schon Reaktionen des Publikums, bei der du dachtest: „Ja, genau darum geht es hier“?
Das passiert dauernd – im Guten wie im Schlechten! Manchmal passt es genau und das Publikum verhält sich komplett solidarisch mit der Ideologie des Stücks. Aber auch wenn das Gegenteil der Fall ist, sollte es genau so sein. Wir müssen nicht alle der gleichen Meinung sein und doch teilen wir uns denselben Raum, sodass wir es auch zusammen wiedergutmachen müssen. Die Möglichkeit, sich in angenehmer Distanz zurückzuhalten, existiert hier nicht. Die Handlung entwickelt sich genau hier vor deinen Augen und du bist zwangsläufig ein Teil davon. So sieht gelebte Politik aus.

Was bedeutet für dich Berlin als politischer Kontext für dieses Stück?
Da meine Arbeit bisher im ehemaligen Osten aufgeführt wurde, in dem schwarze Menschen im täglichen Leben weniger präsent sind, kommt es oft vor, dass Zuschauende sich fragen, wie sie reagieren sollten. Ich bin neugierig darauf zu sehen, wie es sich in Berlin anfühlen wird, wenn wir anfangen Begriffe aus den 1980er Jahren ins Publikum zu rufen – wie zum Beispiel ‚Checkpoint Charlie’ und ‚Berliner Mauer’. Man könnte ja sagen, dass Berlin die vorderste Front darstellt. Hier befinden wir uns direkt im Schützengraben. Genau hier wurde Geschichte geschrieben, von Menschen, die ihre politische Macht nutzten, um Interessen durchzusetzen, die bis zur Berlinkonferenz von 1884 zurückgehen und auch mich geformt haben. Und natürlich haben sie nicht nur mich persönlich beeinflusst, die ganze Welt hat sich durch Orte wie Berlin und Paris verändert.

In deinem Stück gibt es auch eine utopische Re-Imagination deiner Kindheit – spielen Utopien eine wichtige Rolle in deiner Arbeit?
Es muss immer Utopie und Dystopie zugleich sein. Das eine funktioniert nicht ohne das andere! Außerdem glaube ich nicht, dass zum Beispiel die Geschichte Afrikas ausschließlich utopisch erzählt werden kann. Wir sind so stark enttäuscht worden, und trotzdem sind wir heute hier. Auf gewissen Weise ist unser Überlebenswille schon in sich eine Utopie. Meine eigenen Mitmenschen in Simbabwe nehme ich als erstaunlich mutig wahr – und vielleicht wird sich die Geschichte ja noch rechtfertigen. Ich glaube, das gleiche gilt für alle Menschen aus Afrika, ganz gleich, ob sie auf dem afrikanischen Kontinent oder in der Diaspora leben. Ich bin also voller Hoffnung, gleichzeitig aber auch pragmatisch. Letztendlich kann ich die Welt ja nicht weniger widersprüchlich machen. Wir leben in schwierigen, aber auch interessanten Zeiten – und ich bin sehr froh darüber, in einer so interessanten Zeit zu leben. Unsere Welt gleicht einem Rätsel, aber einem, das uns auch viel Freude bringen kann. Und ich möchte sie so lang genießen, wie ich kann!

Deutsche Übersetzung von Mieke Woelky


Eine Kooperation zwischen dem Tanzbüro Berlin und Tanz im August 2019
Unsere Tanzschreiber-Autor*innen Alexandra Hennig, Beatrix Joyce und David Pallant wurden eingeladen, die Tanz im August 2019 Künstler*innen Nora Chipaumire, deufert&plischke, Nicola Gunn, Gunilla Heilborn und Claire Vivianne Sobottke zu interviewen. Alle Interviews werden auf www.tanzschreiber.de und www.tanzimaugust.de/magazin veröffentlicht.