„Sight Seeing“, Julian Weber © Julian Weber

Stylisch, abgespaced und abgeklärt

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Julian Weber lädt in „SightSeeing“ zu einem Ausflug in virtuelle Nicht-Ort-Zeit-Welten.

Die Körper des 21. Jahrhunderts sind schon längst zu Schauplätzen des Digitalen geworden: Uhren können Puls und Cholesterinspiegel messen und die Werte direkt in die Cloud senden / mit Googlebrille sieht die Welt schon ganz anders aus / ohne Selfiestick geht hier niemand mehr vor die Tür …  Was der allgegenwärtige Zugriff des Virtuellen auf die Körper für zeitgenössisches Tanzschaffen bedeutet, möchte der Choreograf und bildende Künstler Julian Weber im Dialog mit der Sängerin und Tänzerin Lynn Suemitsu ausloten. Dafür wurde eine unbestimmte, horizontale Landschaft aus weißem Grund erschaffen, die nach oben hin ausfranst und in der sich futuristisch anmutende Skulpturen, Textilien und Gestalten mit Hang zur Eitelkeit befinden. (Bühne: Jonas Maria Droste, Julian Weber / Licht: Maika Knoblich). Technologie, Mensch- und Objekt-Sein verschränken sich auf der Suche nach der „multidimensionalen Körperlichkeit“. Alle sehen schon mal extrem stylisch aus.  

„Hey…Hey! “ Verloren out of space

Jemand ist in diese Welt hinein geworfen worden. Dort kämpft er sich ab – auf allen Vieren – und kommt doch nicht vom Fleck. An seinem Rücken ist eine Art Gerüst wie zu einer Panzerung geschnallt, Eisenstangen stehen davon ab, verschiedene Gurte – eine undefinierbare Skulptur. Diese Figur (Julian Weber) wird sich irgendwann aufrichten, auf zwei Stangen-Stelzen klettern, sich den Rest des ursprünglichen Panzergestells auf den Kopf setzen und von dort aus als hyper-realer Audioguide zu uns sprechen. Wir sind hier die Tourist*innen – „Sight Seeing“. Die anderen Bühnen-Bewohner*innen sind (wie es sich für ‚Locals‘ gehört?) vor allem ziemlich unbeeindruckt. DJane Lynn Suemitsu liegt lässig auf dem schrill-bunten Teppich vor ihrem Set und lässt die Füße baumeln – auch sie sieht aus wie die Figur aus einem Comic-Traum *1 in lila und schwarzem Lack: an ihren Füßen übergroße Boots, über ihre Schultern ein Superheld*innenumhang geworfen. Ihre kurzen Post-Techno-Rap-Einlagen mit Mikro am Bühnenrand wirken als Momentaufnahmen einigermaßen deplatziert – die ‚echte‘ Party findet woanders statt. Es scheint, als passten so etwas wie Gefühle, Ausbruch oder Bedeutung nicht zur virtuellen Theorie-Schablone – alles irgendwie distanziert, intellektuell verschraubt, abgeklärt und durchgestyled –  und sicher liegt es daran, dass ich über die Dauer dieses Stücks kaum eine Verbindung zu dem ziehen kann, was sich dort (so direkt vor meinen Augen und so weit weg) abspielt. Obwohl: Als die zwei sympathischen Zwillings-Wesen mit den kahlen Köpfen und den zu Schlitzen zusammen gekniffenen Augen (Pierre Marie Besse, Olivia McGregor) unvermittelt auf die Bühne schlurfen,  macht mein Herz einen kleinen Hüpfer. – „E.T. nach Hause telefonieren“ – Hollywood hat ganze Arbeit geleistet. Die Sehnsucht des heimwehgeplagten Außerirdischen wird hier aber natürlich nicht erzählt.

Stattdessen schwirren die Ebenen und Zustände vereinzelt durch die Raum-Zeit und verweigern sich darin jeder Art von Tiefgang. Es ist irgendwie ganz schön verloren und haltlos an diesem Ort – die Figuren, gestrandet im uferlosen Cyberspace. Mal scheinen philosophische Gedankenströme von der wandelnden Figur Julian Webers in drachengemusterten Leggins Besitz ergriffen zu haben, die elektronisch bearbeitet den Mund verlassen, während sein Blick in die Ferne schweift: „Hey dear product of social structure!“. Dabei sind die anderen phantastisch angehauchten Körperlichkeiten, die hier angedeutet werden, genau die Momente, in denen dann doch etwas zu mir spricht: als schalentierähnliches Wesen mit flirrenden, wie zu Zähnen oder Fühlern vor dem Gesicht gestreckten Fingern / als gebeutelter Wanderer mit hängenden Schultern durch die Landschaft stapfend / als fluides Körpergebilde, wie von elektromagnetischen Wellen geleitet durch den Raum wabernd. Alle aufflackernden Bewegungsexperimente werden, kaum etabliert, jedoch sogleich wieder vom Unbestimmten verschluckt. Die digitale Wende – ein posthumanes, schwarzes, Loch?


*1 Am Ende bekommen wir von den zwei Gestalten ein Comic ausgehändigt, den Pierre Marie Besse während der Proben angefertigt hat.