„Sitzen ist eine gute Idee“, Antje Pfundtner in Gesellschaft ©Simone Scardovelli

Sitz-Platz. Neu erlebt.

TANZPLATTFORM 2022 >>> Im Radialsystem zeigte Antje Pfundtner in Gesellschaft am 16. und 17. März das Solo „Sitzen ist eine gute Idee“ (Tanz: Antje Pfundtner). Diese beiden Texte entstanden im Rahmen der zweitägigen tanzschreiber-Schreibwerkstatt zur Tanzplattform 2022 unter der Leitung von Mareike Theile, Johanna Withelm und Alex Hennig. Inspiriert von der Lust am Text und im Austausch über Tanz und Tanzkritik wurde die eigene Schreibpraxis erweitert und herausgefordert.

Texte: Heike Brunner, Doreen Markert


Sitz-Platz. Neu erlebt.

Antje Pfundtner in Gesellschaft schlägt vor: „Sitzen ist eine gute Idee“. Platz nehmen ließ sich im Rahmen der Tanzplattform 2022 im Radialsystem

Text: Heike Brunner


Das Kratzen im Raum verteilter Klappstühle und schauspielende Platz-Zuweiser*innen im Saal, die zu kleinen Gesprächszirkeln einladen, eröffnen den Raum und das Tanztheater-Stück mit der Frage: Wofür stehst du auf? Libertat, eine der Platz-Zuweiser*innen erzählt, dass Freiheit sie persönlich und ihre Familie schon immer thematisch begleite und zum Aufstehen veranlasse. Meine Publikumsnachbarin möchte gern für Feminismus aufstehen, die andere für die Arbeit und Familie, ich für Kaffee. Antje Pfundtner startet mit freundlicher Irritation und direkter Kommunikation in den Abend. Ein Abend zum Thema Melancholie. Die Bühne ist der Raum, die Zuschauer*innen Teil des Bühnenbildes, mal in direkter Interaktion, mal auf ihren Platz verwiesen oder des Platzes freundlich beraubt.

Die Komposition des Raumbildes ist inspiriert von Albrecht Dürers Kupferstich: Melancholia I. Es ist das Werk, welches gerne kontrovers interpretiert wird, denn beispielsweise blickt Dürers Melancholia I nicht stumpf, sondern mit Licht im Auge, und so malte er ihr die Hand zur geballten Faust, alles eher untypisch für melancholische Eigenschaftszuschreibungen. Die Faust eine Geste, die in Antje Pfundtners Bewegungen immer wieder auftaucht, eher aktiv gegen den Himmel gestreckt als im Schoße ruhend, wenn es ums Aufstehen, Aufbegehren geht, wenn sie von all den Optionen spricht, für die sie aufstehen würde. Die Künstlerin lässt die Zuschauer*innen in den einzelnen Szenen in widerstreitende Kräfte eintauchen, führt sie in metaphorische groteske Bilder, sie verwandelt sich mal eben von Gott zur Wolke, indem sie ihre weiß wolkige Requisite mal auf dem Kopf mal unter dem Kinn trägt, und gewinnt mit dem Humor der feinen Beobachtung. Die Leiter im Kupferstich findet mit Antje Pfundtner neue Funktionen. So sitzt sie erhaben auf dem feuerroten Äquivalent und verkündet, Dog-Trainerin zu sein. Der Hund im Bild von Dürer schläft übrigens schlaff. Von dort oben rezitiert sie Perspektiven des Aufstehens/Sitzenbleibens im Sinne von „real fans always stand up“ oder „ich steh auf, weil es sonst niemand macht“. Ihre Sprechtheaterkünste, die zwischen Poesie, Zitaten und Dozieren fluoreszieren, die nicht immer „menschlich“, aber selbst gesummt wie von einer Fliege oder gegurgelt verständlich bleiben, sorgen für Lachen auf der einen und Weinen auf der anderen Seite. Melancholia tanzt sie in den verschiedenen Impulsen und Stilen von Aufstand und Widerstand, von rebellischen, militanten, bis zu demütigen erschöpften Phasen. Stimme und Tanz verweben sich zu Stakkato-Sound in der „Mein linker linker Platz ist frei“-Szene. Die Worte immer schneller und schneller in den Raum schreiend und dabei wie besessen rhythmisch auf den Platz schlagend ist dies einer der wortgewaltigsten Momente. Mal umhüllen die Worte die Zuschauer*innen im Raum und zerreißen alsbald wie Wolken, die nach dem Regen gelegentlich ein Licht preisgeben. Dichte und Raum wachsen zeitgleich an, in der offensichtlichen Verzweiflung gegen das Sitzenbleiben, gegen die Stühle, die frei bleiben, weil jemand fehlt. Schließlich beduftet die Künstlerin die Menschen mit Herz- und anderen Klaviernoten, bezaubert mit Vielfalt in der Bewegung und einer Präzision, die gewollt ins Tragikomische schlittert.

Ich möchte mehr von solchem „Quatsch“ sehen; auch ein Wort, (lass den Quatsch), das sie gekonnt intoniert, betanzt und interpretiert. Blüten soll es regnen für diese vielseitige und aufrüttelnde Künstlerin, die sich am Ende fast surreal als endlos schaukelndes Stehaufmännchen verabschiedet und die Jahre des melancholischen Seins weiter zählt.


Fotos: „Sitzen ist eine gute Idee“ von Antje Pfundtner in Gesellschaft. Uraufführung Kampnagel Hamburg 23.10.2019 ©Simone Scardovelli


Wo führt das hin?

Im Radialsystem zeigt Antje Pfundtner in Gesellschaft das Solo „Sitzen ist eine gute Idee“ (Tanz: Antje Pfundtner). „Wofür stehst Du auf?“ ist die Eingangsfrage an die Zuschauer*innen. Der Aufstand ist ausgerufen.

Text: Doreen Markert


Ich nehme es gleich vorweg: SIE hat mich den ganzen Abend lang auf der Kante meines Stuhls sitzen. 90 Minuten in völlig unbequemer Sitzhaltung, was ich erst gegen Ende der Vorstellung bemerke. Ich sitze quer auf einem Klappstuhl, nutze nur einen Teil der ohnehin kleinen Sitzfläche. Den Oberkörper verdreht, um mich mit dem rechten Arm auf der Rückenlehne abzustützen. Das Gewicht größtenteils auf der Kante des Stuhls, ganz vorn.

Eine wackelige Angelegenheit.

„Wofür stehst Du auf? Wofür bleibst Du sitzen?“

Für

Frieden.

Kaffee.

Gerechtigkeit.

Neugier.

Nähe.

Wir sind zu Beginn aufgefordert, uns diese Fragen zu stellen. Gespräche in kleinen Grüppchen entspinnen sich, wir sitzen kreuz und quer im Raum auf schwarzen Klappstühlen. Einige suchen noch nach einem Stuhl, es sind genug für alle da. Wir sind gekommen, um zu sitzen.

Ich bemerke ein riesiges, rotes Insektenauge, das mich von der Decke aus anstarrt. Was sieht dieses Auge?

SIE – rotglänzende Leggings, schwarzes Shirt – saust durch den Raum, bahnt sich ihren Weg, verstellt die Stühle. Setzt sich, steht auf, setzt sich. Zuschauer*innen weichen aus, packen ihre Sachen, setzen sich um.

„Jemandem Dampf unter dem Hintern machen“, diese Redewendung fällt mir ein.

„Auf heißen Kohlen sitzen“, noch eine Redewendung, die mir in den Sinn kommt.

Und das ist es, was dieser Abend mit mir macht. Er rüttelt mich auf. Ich sitze auf Kohlen, die Koffer sind gepackt. Ich bin auf dem Sprung – jederzeit bereit, aufzustehen. Eine Szene jagt die andere.

„Was niemand weiß: Wo führt das hin?“

„Mein linker linker Platz ist frei…“. Wieder und wieder hämmert SIE auf den Stuhl neben sich ein. Es ist der einzige rote Stuhl im Raum. Die Schläge werden immer heftiger, lassen den Stuhl im Kreis hüpfen. Aber es kommt niemand.

„Der Grund warum wir heute hier versammelt sind – Nonsens.“

Es folgt ein Hoch auf den Quatsch (oder war es davor?).

Quatsch. Quatschsch. Quätschsch. Quäitschsch. Quitsch. Quitschsch….

Die Worte werden zu Geräuschen. SIE wird zum Sprechen. Mehrmals an diesem Abend gibt es diese Sequenzen: Worte fließen aus ihr heraus, verändern sich in der Wiederholung, verschmelzen, formen sich neu, klingen ohne zu bedeuten. Ihre Bewegungen passen sich den Lauten an. Sprechen ist Körper ist Sprache ist Sprechen. Inmitten des klingenden Nonsens taucht dann plötzlich wieder der Sinn auf. SIE spielt mit der Sprache, holt alle Kraft aus ihr raus, nimmt SIE wortwörtlich, bringt uns mit Wortwitz zum Lachen.

Wo führt das hin?

Noch eine Szene, gegen Ende: Das und das und das hab‘ ich gemacht, Dasunddasunddashabichgesagt. Check, check, check…

SIE geht eine Art To-Do-Liste durch – die Szenen des Stücks. Macht ein Häkchen nach dem anderen. „Sorry hab‘ ich gesagt…in die Hosen hab‘ ich gemacht… Die Blume, die Blume habe ich noch nicht gemacht. David, die Blume bitte!“ Eine übergroße Papierblume fällt neben mir zu Boden. „Ok, das haben wir jetzt auch gemacht.“

SIE entlarvt die Produktion, SIE benennt die Rastlosigkeit. Dann springt SIE vom Stuhl auf, zum nächsten Moment. Getrieben. Getrieben wovon?

„Ich stehe auf, weil es niemand sonst hier im Raum macht.“

SIE ist VIELE.

SIE steht auf. Rot.

„Die Geschichte des Stuhls ist eine Geschichte von Missverständnissen.“

SIE will, dass ich aufstehe.

SIE will sitzenbleiben.

SIE will nicht sitzenbleiben.

SIE wird nicht aufhören.

Einer der ergreifendsten Momente für mich ist, wenn SIE plötzlich innehält. Inmitten dieses Feuerwerks an drängender Präsenz, dieser Wortkaskaden, dieser stürmischen, zuweilen wütenden Kraft gibt es einen Moment, in dem SIE plötzlich stillsitzt.

Minutenlang…

Wo führt das hin?

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich glühendrote Spiralen, die wild umeinander und ineinander kreisen. Bis zum abrupten Stopp. Funken sprühen. Eine sprechende alte Wolke kommt ins Bild, auf der Schulter eine zart parfümierte Fliege. Der Duft der Melancholie. Er löst sich auf in weißem Nebel. „Gegen das Verschwinden“ steht in der Luft geschrieben.

„Lass‘ den Quatsch.“

 „Ich werde nicht aufhören.“ – Das ist ihr letzter Satz. SIE sagt ihn, während SIE in einem riesigen „Stehaufmännchen“ hin und her wippt. Traurige Ironie? Oder Hoffnungsschimmer?

Das „Stehaufmännchen“ sieht aus wie eine übergroße Hagebutte. SIE guckt mit ihrem Kopf aus diesem übergroßen Hagebuttenkörper heraus. SIE bewegen sich. Kaum von der Stelle. Auf das Publikum zu.

Und wieder rücken einige Zuschauer:innen mit ihren Stühlen zur Seite. Stehen auf… 

„It’s now or never….“. Jetzt oder Nie. Fast hätte ich vergessen, dass Elvis gesungen hat. 


Die Berlin-Premiere von „Sitzen ist eine gute Idee“ von Antje Pfundtner in Gesellschaft wurde am 16. und 17. März vom HAU Hebbel am Ufer im Rahmen der Tanzplattform 2022 im Radialsystem gezeigt.