„PACK“, Miller / de’Nobili ©Carsten Beier

Herdenverhalten

TANZPLATTFORM 2022 >>> „PACK“ von Miller / de’Nobili, präsentiert im Rahmen der Tanzplattform am 19. März 2022 im HAU2, zeigt die Virtuosität seiner Darsteller und spielt auf mehreren Ebenen mit Gruppendynamiken.

Leider mussten Miller / de’Nobili wegen Krankheit der Performer eine kürzere Version ihres Stücks „PACK“ aufführen. Diese dauerte nur eine halbe Stunde und es standen nur vier statt der ursprünglich vorgesehenen sechs Tänzer auf der Bühne. Dieser Text ist daher in dem Bewusstsein verfasst, dass die gezeigte Aufführung eine eingeschränkte Version der ursprünglichen künslterischen Absichten darstellt.

In Herr der Fliegen, dem Roman von William Golding, stürzt ein Flugzeug mit einer Gruppe von Schulkindern auf einer einsamen Insel ab. Sie müssen für sich selbst sorgen und versuchen, ihre eigene Mikro-Gesellschaft zu organisieren. Letztlich handelt es sich um ein allegorisches Werk über Zivilisation, Mob-Mentalität und, zumindest meiner Meinung nach, Männlichkeit. Das kommt mir in den Sinn, als „PACK“ eröffnet wird und Egon Gerber, Anton Schalnich, Philip Lehmann und Nam Tran Xuan beginnen, den Raum zu umrunden. Sie nähern sich einander und versuchen sich zu begrüßen. Jeder Händedruck, jede Umarmung, jeder Kuss auf die Wange muss verhandelt werden, als ob es das erste Mal wäre. Sie scheinen die Grenzen des anderen und ihre eigenen auszutesten und versuchen die Regeln dieses Raums, in dem sie sich befinden, festzulegen. Manchmal interagieren sie mit Herzlichkeit, manchmal mit Aggression. Trios schließen sich zusammen und lassen einen Tänzer als Außenseiter zurück, oder sie driften in und aus synchronisierten Duetten. Bestimmte Begegnungen lassen sie in akrobatische Choreographien abdriften. So weit, so gut, eine ziemlich einfache Sezierung der verschiedenen Dynamiken, die entstehen, wenn sich Gruppen von Menschen bilden, durchsetzt mit beeindruckenden, athletischen Bewegungen.

Im weiteren Verlauf der Performance scheint der Schwerpunkt immer mehr auf den virtuosen Bravourleistungen der Interpreten zu liegen. Sie brechen in zuckende Soli aus oder finden sich im präzisen Unisono zusammen und beeindrucken dabei mit ihrem technischen Können. Plötzlich aber wird die Bühne in kaltes Licht getaucht, und die Tänzer stehen hintereinander und schauen uns direkt an. Schalnich sagt: „Wenn ihr zu uns gehören wollt, müsst ihr eine Schleimbeutelentzündung haben“, und die Gruppe zerstreut sich, bevor sie sich wieder zu einer Linie formiert. Es folgt eine ganze Liste von Zugangsvoraussetzungen, die man erfüllen soll, wenn man „dazugehören“ will – man tanzt nicht in einem Theater, man hat ein Sixpack, man hat eine B-Boy-Attitüde … In einem scharfen Wechsel des Tons ist das eindeutig augenzwinkernd (wie deutlich wird, hat einer der Tänzer ganz sicher kein Sixpack) und untergräbt die scheinbare Ernsthaftigkeit des vorherigen Akts. Es scheint eine wirksame Methode zu sein, um zu hinterfragen, warum wir das Gefühl haben, zu bestimmten Gruppen dazu zu gehören und zu anderen nicht. Ich frage mich auch, ob sie sich über die Annahmen lustig machen, die wir als Publikum über sie gemacht haben und dadurch ein differenzierteres Licht auf den vorangegangenen Verlauf der Performance werfen. War die vorherige Darstellung von Männlichkeit, die ich als ziemlich standardisiert gelesen hatte, tatsächlich so angelegt, dass sie in Frage gestellt werden konnte? Und wird die Gruppe im Zuschauerraum genauso hinterfragt wie die auf der Bühne? Die „Meute“, die bis zu diesem Zeitpunkt eine Insellösung war, wendet sich nach außen und durchbricht mit Humor die Fassade, nach welcher eine Gruppe wirklich einheitlich oder homogen ist oder sich von außen leicht definieren lässt.

„PACK“ ist zweifellos beeindruckend, nicht zuletzt wegen des Talents der Tänzer. Doch neben der Pyrotechnik wirft es auch einige interessante Fragen auf. Es bleibt zu hoffen, dass Miller / de’Nobili in naher Zukunft die Gelegenheit haben werden, eine vollständige Version des Werks in Berlin zu präsentieren.

Übersetzung ins Deutsche von Alex Piasente


„PACK“ von Miller / de’Nobili ist eine der 13 aktuellen und bemerkenswerten Positionen des tänzerischen und choreografischen Schaffens, die für die Tanzplattform Deutschland 2022 in Berlin ausgewählt wurden (16. bis 20. März 2022, veranstaltet vom HAU Hebbel am Ufer).


Choreografie: Maria Chiara de’ Nobili & Alexander Miller in collaboration with the dancers / Tänzer: Egon Gerber, Philip Lehmann, Anton Schalnich, Zino Schat, Constantin Trommlitz, Nam Tran Xuan / Licht: Geohwan Ju / Kostüm: Antonia Krull / Komposition: Michele Strobino / Produktionsleitung: Michael Lippold / Dramaturgie: Marvin Neidhardt / Fotos: Carsten Beier / Kamera: Pat Schwarz.